„Eine Waffe in Feindeshand“

„Eine Waffe in Feindeshand“

Von Kurt Palm

 

Knapp drei Wochen, nachdem am 16. September 1948 das „Neue Theater in der Scala“ mit Nestroys „Höllenangst“ eröffnet worden war, brachte diese neu gegründete Wiener Bühne eine Uraufführung heraus, die – zumindest in Österreich – Geschichte schreiben sollte: „Der Bockerer“ von Ulrich Becher und Peter Preses. In der Regie von Günther Haenel spielte der auch vom Film bekannte Fritz Imhoff die Titelrolle. Mit der Wahl dieses Stückes hatte die „Scala“ nicht nur Mut bewiesen, sondern auch ein programmatisches Bekenntnis zum österreichischen Volkstheater in der Tradition Nestroys abgegeben, das einen wesentlichen Teil des Repertoires bis 1956 ausmachte. 

Weitere Eckpfeiler des Spielplans bildeten die großen Komödien der Weltliteratur von Shakespeare über Molière bis Lope de Vega und Shaw sowie die Stücke Maxim Gorkis, Leo Tolstois, Nikolai Gogols und anderer russischer Dramatiker. Nicht vergessen darf auch ein Autor werden, der im kurzen Leben der „Scala“ eine in mehrfacher Hinsicht wichtige Rolle spielte: Bertolt Brecht. Bereits Ende November 1948 stellte das Ensemble der „Scala“, unterstützt von der großen Schauspielerin Therese Giehse, im Rahmen einer Matinee Brecht als „Dichter unserer Zeit“ vor. So unspektakulär das heute klingen mag, so ungewöhnlich war dieses Unternehmen damals, fand es doch zu einer Zeit statt, als in Wien nicht nur die „Scala“, sondern auch Brecht von vielen als Feinde  betrachtet wurden.

Die Idee zur Gründung eines „Volkstheaters neuen Typs“ wurde von österreichischen Emigranten bereits während des Zweiten Weltkriegs in Zürich entwickelt. Am dortigen Schauspielhaus hatten Künstler wie Wolfgang Heinz, Karl Paryla, Emil Stöhr oder Hortense Raky in einem Ensemble gearbeitet, das sein Theaterschaffen bei allen politischen und künstlerischen Unterschieden als eine „Ästhetik des Widerstands“ begriff. Nicht zufällig wurden an diesem Theater zwischen 1941 und 1943 die großen Brecht-Stücke „Mutter Courage und ihre Kinder“, „Der gute Mensch von Sezuan“ und „Leben des Galilei“ zur Uraufführung gebracht.

Unmittelbar nach ihrer Rückkehr nach Wien verfasste eine Gruppe um Karl Paryla eine „Gründungsskizze für ein genossenschaftliches Theater“, dessen Konzept in der damaligen Theaterlandschaft in jeder Hinsicht revolutionär war. Das neue Theater sollte nicht nur kollektiv geführt werden, sondern auch ausdrücklich dem gesellschaftlichen Fortschritt verpflichtet sein und das Publikum durch Gründung einer eigenen Organisation in den Theaterpozess miteinbeziehen. Darüberhinaus war beabsichtigt, „Theater zu Kinopreisen“ anzubieten und dem Publikum durch Aufführungen in Betrieben, Schulen und am Land im wahrsten Sinn des Wortes „entgegenzukommen“. 

Da viele der an der Gründung Beteiligten Mitglieder oder Sympathisanten der Kommunistischen Partei Österreichs waren, lag es nahe, nicht nur mit der KPÖ, sondern auch mit den sowjetischen Besatzungsbehörden zusammenzuarbeiten. Im Sowjetsektor wurde schließlich mit dem ehemaligen „Johann-Strauß-Theater“ in der Favoritenstrasse 8 im 4. Bezirk ein geeignetes Gebäude gefunden. 1945 wurde dieses Haus, das 1931 in das „Scala“-Kino umfunktioniert worden war, von den sowjetischen Behörden als deutsches Eigentum beschlagnahmt und 1948 den Sozietären des „Neuen Theaters in der Scala“ übergeben. Inhaber der Konzession war Wolfgang Heinz, der formal auch als Direktor fungierte. Damit konnte die „Scala“ mit ihren 1.256 Sitzplätzen – das entspricht in etwa der Größe des Burgtheaters – als selbstverwaltetes Schauspielertheater ihren Betrieb aufnehmen.

Nach der erfolgreichen Eröffnungspremiere mit Nestroys „Höllenangst“ und der Uraufführung des „Bockerer“ konnte die „Scala“ am 2. Dezember 1948 mit einer weiteren Sensation aufwarten: An diesem Tag fand in der Regie Leopold Lindtbergs die Premiere von Brechts „Mutter Courage“ mit Therese Giehse in der Titelrolle statt.  

Zu diesem Zeitpunkt, also nicht einmal drei Monate nach der Eröffnung, hatten sich in Wien allerdings bereits zwei Lager gebildet: Eines, das für die „Scala“ war und eines, das gegen sie war. Was das konkret bedeutete, fasste Therese Giehse in einem Gespräch mit Monika Sperr folgendermassen zusammen: „Der gewählte Spielort war infam, da ging kein anständiger Wiener hin. Bis dahin reichte die Toleranzgrenze nicht: das ‚Theater in der Scala‘ wurde boykottiert, auch die ‚Courage‘, so grandios die Aufführung auch war. Denn wer in diesem Kommunistentheater spielte, für den galt nach altem Recht und Brauch: mitgefangen – mitgehangen.“

In einem Interview, das ich im August 1980 mit dem Kritiker Hans Weigel führte, bestätigte auch er, dass die Herabwürdigung der künstlerischen Leistungen der „Scala“ – und Bertolt Brechts – ausschließlich politisch motiviert war. Weigel: „Der Meinungsumschwung kam durch den Kalten Krieg, das ist ganz klar.“ 

Dass der Wind, der der „Scala“ seit ihrer Gründung entgegenblies, ebenfalls entsprechend kalt war, versteht sich angesichts der politischen Lage im damaligen Österreich von selbst. Die Positionen waren unversöhnlich, die Fronten verhärtet und es gab kein „Gespräch der Feinde“, wie der Publizist Friedrich Heer eines seiner Bücher programmatisch nannte. Nebenbei: Als Friedrich Heer 1962 – er war damals Chefdramaturg des Burgtheaters – Hans Weigel als „kleinen österreichischen McCarthy“ bezeichnete, wurde er wegen Ehrenbeleidigung zu einer Geldstrafe von öS 2.000,– verurteilt. Vier Jahre zuvor hatte Weigel weniger Glück. Da verlor er nämlich einen Prozess, den die vier ehemaligen „Scala“-Mitglieder Karl Paryla, Wolfgang Heinz, Erika Pelikowsky und Hortense Raky gegen ihn angestrengt hatten, weil er sie „als Künstler getarnte Agenten, die während ihrer Gastspiele im Westen für den ostdeutschen Geheimdienst spionierten“, bezeichnet hatte. 

Und weil wir schon dabei sind: In einem anderen der endlos vielen Prozesse, die Hans Weigel im Laufe seiner Tätigkeit als Theaterkritiker führte – am bekanntesten ist wohl der  Prozess um die „Watsche“, die die Burgschauspielerin Käthe Dorsch dem Kritiker Weigel auf offener Straße gab –, kam auch ein Vorfall zur Sprache, der im November 1958 für einiges Aufsehen sorgte. Damals hatte Weigel den einstigen „Scala“-Schauspieler Friedrich Lobe in mehreren Artikeln derart heftig attackiert, dass dieser einen Herzinfarkt erlitt und starb.

Auch wenn es sich dabei aus der Sicht Weigels um einen bedauerlichen „Betriebsunfall“ handelte, zielte die Diffamierung ehemaliger „Scala“-Schauspieler durch Kritiker wie Hans Weigel, Friedrich Torberg oder Jacques Hannak ausdrücklich darauf ab, die berufliche Existenz ihrer Feinde – nicht Gegner! – zu vernichten. Daraus machten diese Herrschaften auch nie ein Hehl.

Als zum Beispiel Karl Paryla 1962 aus der DDR nach Wien zurückkehrte und an das Theater in der Josefstadt engagiert wurde, schrieb Torberg: „Und es genügt nicht, dass Karl Paryla hierzulande ungestört leben, kommunistisch wählen und sich kommunistisch betätigen darf – nein, man muss ihn auch noch engagieren.“ Und als Otto Tausig nach seiner Rückkehr aus der DDR mit dem Direktor des Theaters in der Josefstadt, Franz Stoß, wegen eines Engagements verhandelte, hielt Stoß in der einen Hand den Vertrag und in der anderen eine „Reueerklärung“, die sich auf Tausigs Zeit an der „Scala“ bezog. Stoß zu Tausig: „Die ist nicht für mich, sondern für Leute wie Weigel und Torberg.“

Dass Weigel und Torberg später versuchten, ihre Rolle in der Zeit des Kalten Krieges herunterzuspielen, versteht sich angesichts gewisser österreichischer Gesetzmäßigkeiten von selbst. Noch 1983 meinte Hans Weigel während einer Diskussionsveranstaltung in Wien, dass damals ja alles gar nicht so schlimm gewesen sei und man den Brecht- und „Scala“-Boykott vor dem Hintergrund des Kalten Krieges sehen müsse. Darauf konterte Otto Tausig: „Ich kann diese Zeit nicht so lustig empfinden, war ich doch zweimal im Exil, einmal unter Hitler und einmal unter Weigel und Torberg.“ Tausig spielte hier darauf an, dass nach der erzwungenen Schließung der „Scala“ im Juni 1956 ein Teil des Ensembles mangels Arbeitsmöglichkeiten in Österreich in die DDR ging und dort am Deutschen Theater in Berlin eine neue künstlerische Heimat fand.

Hätte es sich bei der „Scala“ tatsächlich um ein reines KP-Propagandatheater gehandelt, wie in einem Großteil der Medien trommelfeuerartig immer wieder behauptet wurde, hätte dieser Bühne mit Sicherheit kaum jemand eine Träne nachgeweint. Aber die „Scala“ schaffte in den acht Jahren ihres Bestehens etwas, das in der darstellenden Kunst selten gelingt: Höchstes künstlerisches Niveau mit einem dezidiert gesellschaftlichen Anspruch zu verbinden, und dabei das Publikum auf lustvolle Weise zu unterhalten und zum Denken anzuregen. Vor diesem Hintergrund versteht man auch, weshalb an der „Scala“ Persönlichkeiten wie Bertolt Brecht, Helene Weigel, Hanns Eisler, Ernst Busch, Leopold Lindtberg, Therese Giehse, Dorothea Neff, das Brüderpaar John Heartfield/Wieland Herzfelde, Teo Otto, Arnolt Bronnen, Marcel Rubin und viele andere tätig waren und weshalb aus dem Ensemble Schauspielerinnen und Schauspieler hervorgingen, die das deutschsprachige Theater viele Jahrzehnte lang prägten.  

Nachdem sich ein Teil der Wiener Theaterkritik und die SPÖ-Führung in die „Scala“ regelrecht verbissen hatten, war für diese Leute mit der Unterzeichnung des Staatsvertrags im Mai 1955 die Zeit der Abrechnung gekommen. Die Lage auf den Punkt brachte der vom ehemaligen Wiener Kulturstadtrat Viktor Matejka als „Berufsantibolschewik“ bezeichnete Kritiker Jacques Hannak, der am 24. Februar 1956 in der „Arbeiter Zeitung“ schrieb: „Da haben also die Kommunisten im Jahre 1948 in der ‚Scala‘ ein Theater aufgemacht, dessen Aufgabe es war, auf dem Umweg über ‚Kultura‘ Österreichfl reif zur Volksdemokratie zu machen. Es war eine der vielen antiösterreichischen Waffen, mit denen unser Land in die Knechtschaft gezwungen werden sollte. Ein kommunistisches Parteitheater ist nichts anderes als ein Propagandainstrument mit Kulturtarnung. Die ‚Scala‘ wurde in Wien als solches behandelt: als ein Stück Missbrauch, als eine Waffe in Feindeshand. In der ‚Scala‘ bleiben die Kommunokapitalisten nicht. Gewerkschaftsgut bleibt nicht länger auf Grund ‚sibirischer Verträge‘ in kommunistischen Händen.“ Hier spielte Hannak darauf an, dass der ÖGB das „Scala“-Gebäude für sich in Anspruch nahm.

Als die Schließung der „Scala“ immer wahrscheinlicher wurde, appellierten Künstler aus aller Welt an den SPÖ-Kulturstadtrat Hans Mandl, sich für eine Weiterführung des Theaters, „das zu den besten Europas gehört“ (Bertolt Brecht), einzusetzen. Neben Brecht schrieben an Mandl auch der Intendant des „Piccolo Teatro“ in Mailand, Paolo Grassi, es kamen Briefe von Lion Feuchtwanger aus Kalifornien, von Howard Fast aus New York, von Erwin Piscator aus West-Berlin, von Erich Engel aus Ost-Berlin, von Therese Giehse aus Zürich und vom Präsidenten der Internationalen Schauspielergewerkschaft, Jean Darcant. Diese Briefe nutzten ebensowenig wie die Protestschreiben der Volksbühne Berlin, des Berliner Ensembles, des Maxim-Gorki-Theaters oder des Teatr Narodowy aus Warschau. 

Auch 22.000 gegen die Schließung gesammelte Unterschriften halfen nichts, da sich SPÖ und ÖGB die Gelegenheit nicht entgehen lassen wollten, der „Scala“ durch einen formalen Trick endgültig den Garaus zu machen. An Brecht schrieb Stadtrat Mandl in typisch österreichischer Beamtenmanier: „Da Herr Direktor Heinz den gesetzlich vorgeschriebenen Nachweis der Betriebsstätte nicht erfüllen kann, ist die Behörde nicht in der Lage, eine Konzession für diese Betriebsstätte zu geben. Es geht also bei dem anhängigen Konzessionsverfahren nicht um die künstlerischen Qualitäten der Theaterleitung und des Ensemblfies, die unbestritten sind, sondern darum, ob der Konzessionswerber die notwendigen gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt oder nicht.“ 

Nach der letzten Vorstellung am 30. Juni 1956, gezeigt wurde Brechts „Leben des Galilei“ mit Karl Paryla in der Titelrolle, fiel der letzte Vorhang in der „Scala“. Danach stand das Gebäude bis 1959 leer und wurde schließlich abgerissen. Die Baulücke wurde zwar Mitte der siebziger Jahre wieder geschlossen, aber die Lücke, die die „Scala“ in der österreichischen Theaterlandschaft hinterlassen hat, klafft bis heute.

Das Schlusswort gehört einem unverdächtigen Zeugen, nämlich Helmut Zilk, der 1984 anlässlich der Verleihung des Professorentitels an Karl Paryla erklärte: „Ich stehe nicht an zu sagen, dass ich es als eine Schande für die Stadt empfunden habe, unter welchen schmählichen Umständen man aus vordergründigen politischen Gründen das ,Neue Theater in der Scala‘ eingehen ließ.“ 

Beitrag für Die Presse“ („Spectrum“), erschienen am 24. Juni 2006

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