„Zieh deine Schlapfen an“

„Zieh deine Schlapfen an“

Von Kurt Palm

Vier Stunden, bevor meine Mutter starb, sagte sie zu mir: „Zieh deine Schlapfen an. Der Boden ist kalt.“ Das war um fünf Uhr früh, als ich sie ins Bad begleitete, weil sie aufs Klo mußte. Während sie auf dem Klo saß, holte ich mir meine Hausschlapfen, was ich nicht getan hätte, wenn sie gesund gewesen wäre. Aber jetzt war alles anders und ich wußte, dass meine Mutter nicht mehr lange leben würde. Also tat ich ihr den Gefallen.

Nachdem ich ihr wieder ins Bett geholfen hatte, fragte ich sie, ob ich sie mit Wick VapoRub einreiben solle. Ihre Antwort war kaum hörbar: „Ja, schmier mich halt ein.“ Der Geruch der Salbe erinnerte mich an meine Kindheit, als meine Mutter mir den Brustkorb einrieb, wenn ich eine Erkältung hatte. Jetzt war es umgekehrt, nur mit dem Unterschied,  dass meine Mutter keine Erkältung hatte, sondern todkrank war. Auch den Tee, den ich ihr brachte, konnte sie nur noch mit meiner Hilfe trinken. Und als würden sich tatsächlich alle Verhältnisse umkehren, sagte ich zu ihr, während ich sie zudeckte: „Mama, heute ist Sonntag, heute können wir länger schlafen.“ Früher sagte das meine Mutter sonntags immer zu mir und meinen beiden Geschwistern. 

Bevor ich mich auf die Küchen-Couch in mein provisorisches Bett legte, setzte ich mich an den Tisch und studierte noch einmal die Liste mit den Medikamenten, die ich meiner Mutter geben sollte. Es waren neun verschiedene Medikamente, die – glaubte man den Beipacktexten – durchaus in der Lage gewesen wären, einen gesunden Menschen zu töten. Dass diese Tabletten einem schwer kranken Menschen helfen konnten, bezweifelte ich stark, aber meine Schwester versicherte mir, dass sie alles mit den behandelnden Ärzten abgesprochen hätte. Nachdem meine Schwester völlig erschöpft nach Hause gefahren war, war also ich jetzt mit der Pflege meiner Mutter an der Reihe. Nach mir sollte mein Bruder kommen, dann wieder meine Schwester usw. 

Meine Mutter war in der Zwischenzeit eingeschlafen und zitterte am ganzen Körper. Ich ging zu ihr und hielt ihre Hand. Sie öffnete kurz die Augen und fragte: „Hast du einen guten Besen?“ Ich  bejahte ihre Frage und sagte, dass ich sogar einen Bartwisch habe. „Ach so“, sagte sie, und schlief wieder ein. Dann murmelte sie: „Herbst ist.“

Meine Mutter hatte recht, es war Herbst. Genau genommen war es der 4. Oktober 2003, ein scheußlicher Tag, an dem der Wind den Regen gegen die Fenster peitschte und die grauen Wolken tief hingen.

Ich legte mich kurz hin, konnte aber nicht schlafen und setzte mich wieder ans Bett meiner Mutter. Ich streichelte ihre Wangen, worauf sie mich ansah und sagte: „Dober dan“. Ich antwortete: „Kako ti ide? Zelite li jedno pivo? Ja cu vam dovesti.“ Sie lächelte. „Wie geht es Ihnen? Wollen Sie ein Bier? Ich hole Ihnen eines.“ Das war der Spruch, den uns unsere Eltern gelernt hatten, als Mitte der sechziger Jahre jugoslawische Gastarbeiter in Timelkam Künetten für die Kanalisation gruben. 

Um sieben Uhr bekam meine Mutter einen Hustenanfall und mußte sich aufsetzen. Ich gab ihr ein Hustenzuckerl und etwas Tee. Sie legte sich wieder hin und schlief sofort ein. Während sie phantasierte, bereitete ich alles für die morgendliche Medikamenteneinnahme vor. Um acht Uhr wurde meine Mutter wach und bat mich, die Vorhänge zurückzuziehen. Draußen regnete es immer noch und eine Wetterbesserung war nicht in Sicht. Ich fragte meine Mutter, ob sie mit mir beten wolle. Sie sagte, vielleicht später. Am Vorabend hatten wir gemeinsam ein „Vater unser“ und ein „Gegrüßet seist Du, Maria“ gebetet. Meine Mutter hat mit geschlossenen Augen gebetet und meine Hand gehalten. Ich hatte zuvor das Licht ausgemacht und die Fatima-Kerze angezündet, die neben ihrem Bett auf dem Tischchen stand. Nach dem Gebet sah sie mich an und sagte: „So ein braver Bua.“ Ich nickte lächelnd, ging in die Küche und trank ein Bier. Dann ging ich ins Wohnzimmer und sah mir im Fernsehen eine Talkshow an. Das war am Vorabend gewesen.

Jetzt war es acht Uhr in der Früh und meine Mutter sollte noch siebzig Minuten leben. Das Telefon läutete. Es war meine Schwester, die sich nach Mutters Gesundheitszustand erkundigte und zu Mittag mit Champignon-Sauce und Semmelknödeln vorbeikommen wollte. 

Kurz vor neun wachte meine Mutter auf und stöhnte. Ich ging zu ihr und fragte, ob alles in Ordnung sei. Sie sagte: „Ich setze mich ein bisschen auf.“ Ich half ihr und gab ihr eUin Papiertaschentuch, um das sie mich gebeten hatte. Sie fragte, wo die Christa sei. Ich antwortete, dass sie angerufen habe und zu Mittag mit Champignon-Sauce und Knödeln vorbeikommen werde. Dann fragte sie, was das für Salben auf dem Tisch seien. Ich erklärte ihr, was es mit den Salben auf sich habe. Sie deutete auf die Hirschtalg-Tube und fragte: „Ist die auch zum Schneuzen?“ 

Gerade als ich antworten wollte, griff sie sich ans Herz und sagte: „Es tut so weh. Hol den Doktor.“ Ich nahm sie in die Arme und legte sie vorsichtig aufs Bett. Im Hinlegen sah sie mich noch einmal an, dann starrte sie an die Decke und begann zu röcheln. In diesem Augenblick wurde mir klar, dass meine Mutter im Sterben lag. Zuerst röchelte sie in kurzen Abständen, dann wurden die Abstände immer länger, dann war nichts mehr. Wie lange der Übergang vom Leben zum Tod gedauert hat, weiß ich nicht, ich weiß nur, dass ich versucht habe, möglichst ruhig zu bleiben und meiner Mutter das Gefühl zu geben, dass sie nicht alleine war. 

Da ich noch nie einen Menschen sterben sah, wußte ich nicht, woran man erkannte, dass jemand tatsächlich tot war. Ich hielt den Atem an und wartete auf ein Zeichen. Es kam aber kein Zeichen. Das einzige, was ich hörte, war der Regen, der monoton gegen die Fensterscheiben trommelte. Wenn im Film ein Mensch stirbt, gibt es die entsprechende Musik dazu. Warum eigentlich? Um vom Faktum des Todes abzulenken? Oder um das – ohnehin fiktive – Sterben erträglicher zu machen? Im wirklichen Leben stirbt der Mensch meist ohne Musikbegleitung. Im Augenblick des Todes meiner Mutter war die Geräuschkulisse jedenfalls banal. Neben dem Regen hörte ich bloß das Ticken der Uhr und das Brummen des Kühlschranks. Was meine Mutter hörte, weiß ich nicht. Aber was heißt eigentlich: „Augenblick des Todes?“ Der Arzt, der zu Mittag kam, um den Totenschein auszustellen, meinte, dass meine Mutter binnen weniger Sekunden an einem „plötzlichen Herztod“ gestorben sei. Ich hatte allerdings das Gefühl, dass der Todeskampf wesentlich länger gedauert hat. Vielleicht sogar einige – endlos lange – Minuten.

Obwohl ich mir nicht ganz sicher war, dass meine Mutter tot war, zündete ich eine Kerze an und sagte ihr, dass ich kurz telefonieren müsse. Ich ging ins Vorzimmer und rief meine Schwester in Vöcklabruck und meinen Bruder in Zürich an. Mein Bruder sagte, dass er sich sofort in den Zug setzen und am späten Nachmittag in Timelkam ankommen werde. Seine Frau und die beiden Kinder würden in der Kirche in Einsiedeln für unsere Mutter beten. Wieder im Zimmer, küßte ich meine Mutter auf beide Wangen, dankte ihr für alles und versuchte, ihre Augen zu schli eßen, was mir aber nicht gelang. Trotz des heftigen Regens, öffnete ich das Fenster, um der Seele meiner Mutter die Möglichkeit zu geben, nicht nur ihren Körper, sondern auch das Haus, in dem sie fast fünfzig Jahre lang gewohnt hatte, zu verlassen. Die Theorie, wonach ein Mensch, sobald er stirbt, um 21 Gramm leichter wird, leuchtete mir in diesem Augenblick jedenfalls ein.  

Bis Mittag kamen einige Nachbarn und Verwandte, um Abschied von „der Anna“ bzw. von „Frau Palm“ zu nehmen. Meine Schwester suchte das Gewand aus, mit dem unsere Mutter begraben werden sollte. Am frühen Nachmittag holten zwei Mitarbeiter der Bestattung den Leichnam ab, der am nächsten Tag in der Friedhofskapelle in Oberthalheim aufgebahrt wurde. 

Die vielen Formalitäten, die nach einem Todesfall zu erledigen sind, habenç den Vorteil, dass man nicht viel zum Nachdenken kommt. Alleine die Vorbereitungen eines Begräbnisses nehmen mindestens zwei Tage in Anspruch, nicht zu reden von den bürokratischen Hürden, die bei Bankinstituten, Versicherungen, Behörden und Vereinen genommen werden müssen, um einen Toten ordnungsgemäß „abzumelden“. 

Am Abend des Sonntags, an dem meine Mutter starb, fuhr ich zu meiner Schwester nach Vöcklabruck, um – gemeinsam mit meinem Bruder – die Champignon-Sauce und die Semmelknödel zu essen, die eigentlich für mich und meine Mutter bestimmt waren. Ich trank dazu zwei Bier und fuhr wieder nach Hause. Es war seit ewigen Zeiten das erste Mal, dass ich im Haus meiner Eltern alleine war. Ich ging in den Keller, setzte mich auf einen Campingstuhl neben die Tiefkühltruhe und öffnete eine Flasche Schnaps. Die Flasche stammte noch von meinem Vater, der sich im Keller einen kleinen Vorrat an Schnapsflaschen angelegt hatte. Ich trank aus der Flasche auf das Wohl meiner Mutter und meines Vaters, die jetzt beide tot waren.

Anschließend ging ich in das Zimmer, in dem meine Mutter gestorben war, zündete eine Kerze an und stellte sie auf das Fensterbrett. Im Wohnzimmer schaltete ich den Fernsehapparat ein und sah beim Zappen mehrere Menschen sterben. Kurz vor Mitternacht blies ich die Kerze im Sterbezimmer aus und legte mich in meinem früheren Zimmer im ersten Stock schlafen. Ich ließ sämtliche Türen des Hauses offen. In der Nacht träumte ich von Geistern, die durch unser Stiegenhaus schwebten. Es waren freundliche Geister.

„Der Standard“, Album, 31. Mai 2008

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