Der Sprung

Jürgen S. hatte nach dem Frühstück eine Cipralex genommen. Wegen der sich häufenden Panikattacken hatte er die Dosis ohne Rücksprache mit seiner Ärztin von 5 auf 20 mg erhöht, aber auch das änderte nichts an seinem Zustand. Er fühlte sich, als wäre er in Watte gepackt, und es fiel ihm schwer, seine Umwelt als etwas Reales wahrzunehmen. Die dritte Nacht infolge hatte er kaum geschlafen und er spürte, wie sich eine ungeheure Müdigkeit in seinem Körper ausbreitete. Außerdem hatte er Kopfschmerzen und ihm war übel.
Er stand vor dem Aquarium mit dem blauen Hintergrund, in dem sich die Kanonenkugel-Quallen nach einer geheimnisvollen Choreographie bewegten. Schwerelos schwebten die gallertartigen Tierchen im Wasser und bildeten bizarre Formationen. Er hielt seine fünfjährige Tochter Sophia an der Hand und versuchte, wenigstens auf diese Weise einen Kontakt zu ihr herzustellen, aber es gelang ihm nicht. Er hätte nicht einmal sagen können, ob es seine oder ihre Hand war, die schwitzte. Unbeteiligt verfolgte er den Tanz der Nesseltiere und er fragte sich, warum er nicht als Qualle geboren worden war.
„Sind die giftig?“, fragte Sophia.
Jürgen S. warf einen Blick auf den Monitor, der neben dem Aquarium an der Wand hing. „Nein, in Asien werden diese Quallen sogar gegessen, und in der Medizin verwendet man sie gegen Bluthochdruck, Bronchitis und Arthritis.“
Sophia war verwirrt. „Waaas?“ Sie zog das a in die Länge, um zu unterstreichen, dass sie von Bluthochdruck, Bronchitis und Arthritis keine Ahnung hatte. „Ich möchte die nicht essen, die sehen so slabberig aus. Ich mag lieber Pommes mit Ketsup. Komm, gehen wir zur großen Sildkröte.“ Sophia zog ihren Vater weg vom Aquarium, blieb aber gleich wieder stehen, als ein Buggy an ihnen vorbeigeschoben wurde. Gebannt starrte sie in das Innere des Wagens, in dem ein kleines Baby schlief. Jürgen S. hätte gerne gewusst, weshalb seine Tochter so fasziniert von Babys war, aber wahrscheinlich war das normal für Mädchen in ihrem Alter. Jetzt fiel ihm ein, dass sie Sophias Puppe im Auto vergessen hatten.
Er merkte, dass er kaum noch die Augen offen halten konnte und dass sein Herz viel zu schnell schlug. Ein deutliches Anzeichen dafür, dass wieder eine der gefürchteten Panikattacken im Anmarsch war. Sein Handy klingelte; mechanisch holte er es aus seiner Hosentasche. Es war seine Ex-Frau, die wahrscheinlich erst jetzt vom Kindergarten informiert worden war, dass er Sophia abgeholt hatte, obwohl er dazu gar nicht berechtigt gewesen wäre. Aber die neue Kindergärtnerin hatte nichts dagegen einzuwenden gehabt. Warum auch, schließlich war er Sophias Vater. Jürgen S. wischte über das Display und schaltete das Handy aus. Er hatte seiner Ex-Frau nichts mehr zu sagen. Es war eine spontane Idee gewesen, mit Sophia wieder einmal ins Haus des Meeres zu gehen. Dabei hatte er gar nicht damit gerechnet, dass es mit der Abholung klappen würde. Ausnahmsweise hatte er einmal Glück gehabt.
Nachdem sie die elektronische Eingangskontrolle passiert hatten, wollte Sophia als Erstes in den Souvenirladen, um sich die Plüschversion einer Schildkröte zu kaufen. Aber Jürgen S. hatte keine Lust, Geld für ein überteuertes ausgestopftes Stoffteil auszugeben, nur weil es die Form einer lächelnden Schildkröte hatte. Die Plastikschlangen wären billiger gewesen, allerdings bezweifelte er, dass sich seine Tochter darüber gefreut hätte. Neben den Plüsch- und Plastiktieren gab es auch noch Bleistifte, Tassen und Kappen mit Haifisch- oder Schildkrötenmotiven.
Ein Jahr lang war Jürgen S. im Haus des Meeres ein- und aus gegangen, nachdem das Architekturbüro, in dem er bis vor kurzem gearbeitet hatte, mit der Neugestaltung der Fassade und des Obergeschosses beauftragt worden war. Das war auch der Grund, weshalb er immer noch die Schlüsselkarte besaß, die er eigentlich schon längst hätte abgeben müsste. Jürgen S. blickte sich um und war froh, keinem der Angestellten zu begegnen. Jedes Gespräch wäre ihm heute schwer gefallen.
„Komm, gehen wir“, sagte er müde zu seiner Tochter. „Die Schildkröte wartet.“
Sophia hätte dem schlafenden Baby gerne noch länger zugesehen, aber nach kurzem Zögern folgte sie dann doch ihrem Vater. Sie griff nach seiner Hand und schmiegte sich wegen der vielen Menschen enger an ihn. Jürgen S. bekam eine Gänsehaut, weil er die Nähe seiner Tochter nicht mehr gewohnt war. Überhaupt hatte er schon lange keinen körperlichen Kontakt mehr gespürt.
Auf einem Monitor las er, dass die Fütterung der Haifische um 15 Uhr 30 stattfand. So lange würde er nicht durchhalten.
Vor dem Terrarium mit drei riesigen Anakondas blieben sie stehen. Eine der Schlangen hatte ihren massigen Körper gegen das Glas gedrückt, und ein paar Kinder machten sich einen Spaß daraus, ihre Hände ebenfalls gegen das Glas zu drücken. „Igitt, ist das gruselig“, kreischte eine junge Mutter, „hoffentlich bricht das Glas nicht, dann würden euch die Schlangen nämlich auffressen.“ Sophia warf ihrem Vater einen fragenden Blick zu. Jürgen S. zuckte aber bloß mit den Schultern.
Im Sekundentakt wurden Handyfotos von den Schlangen gemacht. Argwöhnisch beobachtete Sophia die erstaunlich dicken Anakondas, die regungslos in ihrem Gefängnis lagen. Jürgen S. wusste nicht, wieviel Platz Anakondas in ihrer natürlichen Umgebung brauchten, aber er fragte sich, ob den Tieren überhaupt bewusst war, dass sie für immer eingesperrt waren.
Ein pflichtbewusster Vater las seiner Frau und seinen beiden Kindern vor, was auf dem Monitor zu lesen war:
„Anakondas zeigen ein einzigartiges Paarungsverhalten. Mehrere Männchen umschlingen das sehr viel größere Weibchen und bilden ein Paarungsknäuel. Solch ein Knäuel kann bis zu vier Wochen bestehen. Nach einer Tragzeit von sechs bis acht Monaten kommen die fertig entwickelten Jungtiere lebend zur Welt. Ihre Anzahl beträgt bis über 100. Sie sind bei der Geburt bis zu 90 Zentimeter lang und 400 Gramm schwer. Es kommt häufig vor, dass das geschwächte Weibchen einige Jungtiere frisst.“
„Geh, das ist aber grauslich“, sagte seine Frau mit gespieltem Entsetzen und verzog das Gesicht. Dabei führten ihre Haare, die zu einer schlampige Assi-Palme gebunden waren, einen eigenartigen Tanz auf.
„Waaas?“ Sophia sah ihren Vater an.
„Ach, nichts. Komm, gehen wir weiter.“
In einer durchsichtigen Kunststoffröhre, die in Augenhöhe an den Gangwänden montiert war und sich durch das ganze Haus des Meeres zog, schleppten Ameisen unermüdlich winzige Materialien zu einem Bau, von dem Jürgen S. aber nicht wusste, wo er sich befand. Gab es dieses Rohr schon länger? Während der Umbauzeit war es ihm nicht aufgefallen.
Sie betraten einen abgedunkelten Raum, in dem in schummrig beleuchteten Terrarien verschiedene Spinnen ihr trauriges Dasein fristeten. Bei der riesigen Vogelspinne war sich Jürgen S. allerdings nicht sicher, ob das Tier echt war oder ob es sich um ein Präparat handelte. Lange starrte er die pelzige Spinne an, die entweder schlief, sich tot stellte oder eine Leihgabe des Naturhistorischen Museums war. Tot stellen wäre auch eine Lösung, dachte er. „Möchtest du die Krokodile sehen?“, fragte Jürgen S., um zu signalisieren, dass er den Ausflug mit seiner Tochter ernst nahm.
„Vor Krokodilen habe ich Angst“, antwortete Sophia. Wenn es nur die Krokodile wären, dachte Jürgen S. und merkte, wie die Schmerzen in seiner Brust immer heftiger wurden. Er atmete tief durch, ohne dass sich sein Zustand gebessert hätte. Treiben Sie regelmäßig Sport; sorgen Sie für ausreichend Schlaf; essen Sie kleinere Mahlzeiten und meiden Sie Koffein, Nikotin und psychaktive Drogen, hatte ihm seine Ärztin geraten, aber er konnte mit diesen Empfehlungen nichts anfangen.
„Papa, schau, was ist denn das für ein hässliches Tier?“
Das Wort Papa ließ Jürgen S. zusammenzucken. Er hatte es schon lange nicht mehr gehört. Sophia deutete auf den chinesischen Riesensalamander, der in der Tat abschreckend aussah. Jürgen S. war während der Zeit des Umbaus oft vor dem Aquarium gestanden und hatte sich gefragt, weshalb dieses Tier, das in China in Bächen und Flüssen lebt, so stark bejagt wurde. Aßen die Chinesen tatsächlich solche Riesensalamander, die bis zu zwei Meter lang wurden? Er konnte sich nicht annähernd vorstellen, wie Salamander-Fleisch schmeckte, vertrieb den Gedanken aber gleich wieder, weil er sich sonst hätte übergeben müssen.
Noch bevor das Architekturbüro, in dem er gearbeitet hatte, mit den Umbauarbeiten für das Haus des Meeres beauftragt worden war, hatte es Diskussionen darüber gegeben, ob es überhaupt vertretbar war, eine Attraktion wie das Haus des Meeres in einem Flakturm unterzubringen. Immerhin waren die Flaktürme in Wien auf Befehl Adolf Hitlers erbaut worden und noch 1955 hatte der Architekt der Türme festgestellt, dass in den Flaktürmen der militärische Auftrag am stärksten zu einer plastischen Gesamtform gediehen sei. Jürgen S. hatte oft ein mulmiges Gefühl gehabt, wenn er daran dachte, dass dort, wo jetzt bunte Meeresfische schwammen, tausende Fremd- und Zwangsarbeiter zum Bau des Flakturms eingesetzt wurden und Hunderte von ihnen dabei den Tod fanden.
„Das ist ein chinesischer Riesensalamander, der ist harmlos.“
„Aber der ist größer als ich. Kann mich der fressen?
Jürgen S. versuchte zu lächeln. „Nein, der ernährt sich von Fischen und Krebsen.“
„Ich mag zur großen Schildkröte“, quengelte Sophia und zog ihren Vater weg vom Riesensalamander. „Flora hat zwei Schildkröten und darf sie sogar streicheln. Warum bekomme ich keine Schildkröten?“
„Da musst du Mama fragen“, antwortete Jürgen S. nüchtern.
„Aber Mama sagt immer, dass Schildkröten oft krank sind und dass sie dann zum Tierarzt müssen.“
„Das weiß ich nicht, ich kenne mich mit Schildkröten nicht aus.“
Sophia schien darüber nachzudenken, was die Antwort ihres Vaters bedeutete, und runzelte die Stirn.
„Komm, fahren wir mit dem Aufzug in den dritten Stock.“ Er war zu müde zum Treppensteigen.
Vor dem riesigen Aquarium mit der Rifflandschaft drängte sich ein Pulk von Kindern, von denen eines einen herzförmigen Luftballon mit der Aufschrift HAPPY BIRTHDAY in der Hand hielt. Die Kinder trugen Papp-Kronen eines Fast-Food-Restaurants. Viele von ihnen waren wahrscheinlich jetzt schon zuckerkrank oder würden es in absehbarer Zukunft werden. Neben dem Mädchen mit dem Luftballon stand eine Mitarbeiterin des Hauses des Meeres.
„Schau dir diesen riesigen Rochen an, sein Schwanz ist giftig, wenn der dich sticht, stirbst du“, klärte ein Vater seinen Sohn auf, der nicht zur Geburtstagsgruppe gehörte. Aber statt seinem Vater zuzuhören, blickte der Junge neidisch auf das Mädchen mit dem Luftballon. „Dort, siehst du, zwischen den Felsen, da schaut eine Muräne heraus. Von der möchte ich nicht gebissen werden.“ Und nachdem er einen Blick auf den Monitor geworfen hatte, fügte er hinzu: „Es ist eine Grüne Muräne, die kann bis zu zwei Meter fünfzig lang werden.“
„He, schau, dieser riesige Fisch, wie heißt der?“, fragte ein dicker Junge aus der Geburtstagsgruppe.
„Das ist ein Riesenzackenbarsch“, antwortete die Betreuerin mit einem zufriedenen Lächeln.
„Ist der gefährlich?“
„Nein, natürlich nicht.“ Die Frau klatschte in die Hände. „So, nachdem sich Betty zu ihrem Geburtstag einen Besuch bei unserer berühmten Schildkröte gewünscht hat, werde ich euch jetzt ein bisschen etwas über ihr Leben erzählen.“
Sophia sah ihren Vater an, der ihr aufmunternd zunickte, woraufhin sie sich unter die Gruppe mischte. Der Junge neben ihr warf ihr wegen ihrer fehlenden Papp-Krone einen abfälligen Blick zu.
„So, wie jeder von euch einen Namen hat, hat auch unsere Riesenschildkröte einen Namen. Und zwar heißt sie Puppi. Wer von euch hat schon einmal eine Riesenschildkröte gesehen?“
Die Frage verhallte ungehört im Raum, weil die Kinder entweder ins Aquarium starrten oder sich mit ihren Handys beschäftigten.
„Dort ist sie“, rief ein Mädchen, und tatsächlich tauchte in diesem Augenblick die Schildkröte auf und schnappte nach etwas Essbarem, das wie ein Büschel Gras aussah. Ein paar Kinder machten Handyfotos, dann verschwand die Schildkröte wieder hinter einer Felsformation.
Jürgen S. hatte sich in der Zwischenzeit von der Gruppe entfernt und sich auf einen Stuhl neben einem Kaffeeautomaten gesetzt. Er atmete tief durch, aber die Angst ließ sich nicht abschütteln. Sie schien sich in seinem Inneren festgekrallt zu haben. Er kratzte sich am Unterarm und fixierte einen Punkt an der Wand. Wenn er allein gewesen wäre, hätte er sich jetzt einfach auf den Boden gelegt. Reflexartig holte er sein Handy hervor und schaltete es ein. Die fünf Anrufe in Abwesenheit waren allesamt von seiner Ex-Frau. Er schaltete das Handy wieder aus und ging zur Geburtstagsgruppe zurück.
„… die Frau zahlte einen Dollar für die winzige Baby-Schildkröte, die sie damit vor dem sicheren Tod rettete. In ihrer Handtasche schmuggelte sie Puppi nach Wien, wo sie ein eigenes Aquarium bekam und sich gleich sehr wohl fühlte.“
Jürgen S. kam sich vor wie in einer Märchenstunde. Während die Betreuerin weiter erzählte, beobachtete er die Riffhaie und die Riesenzackenbarsche, die unaufhörlich ihre Runden drehten. Für sie gab es kein Entkommen, genau wie für ihn. Es war jetzt 13 Uhr, die Fütterung der Haifische würde erst um 15 Uhr 30 beginnen, so lange konnte er nicht mehr warten. Er musste raus hier, aber Sophia schien von Puppis Lebensgeschichte ganz begeistert zu sein.
„Eines Tages bekam Puppi sogar eine Lungenentzündung, konnte aber zum Glück durch die Verabreichung von Hühner-Antibiotika wieder geheilt werden.“
„Was ist Hühnerbiotika?“, fragte ein Mädchen.
„Antibiotika“, klärte sie die Märchentante auf, „das ist ein Medikament, das man Hühnern gibt, wenn sie krank sind. Und Menschen auch.“
„Wie alt ist denn Puppi jetzt? Ich habe gelesen, dass Schildkröten einhundert Jahre alt werden können.“ Die Frage kam von dem Jungen, der neben Sophia stand, und sie nach seiner Frage triumphierend ansah.
„Puppi ist jetzt 44 Jahre alt und sie ist seit ihrem sechsten Lebensjahr im Haus des Meeres.“
„Feiert sie auch Geburtstag?“, wollte ein Mädchen mit Brille und Zahnspange wissen.
„Ja, und da bekommt sie dann immer ein Leckerli.“
Jürgen S. reichte es. Er nahm Sophia an der Hand. „Komm, gehen wir“, flüsterte er, weil er kein Aufsehen erregen wollte.
Aber Sophia riss sich los. „Nein, ich möchte nicht gehen. Ich möchte mir noch die Geschichte von Puppi anhören. Und ich möchte auch endlich eine Schildkröte haben.“
„Psst“, ermahnte sie der Junge neben ihr, der sich in der Rolle des Aufpassers sichtlich wohl fühlte.
„Unsere Puppi ist eine richtige Persönlichkeit, die Gefühle hat und die sogar traurig sein kann …“
Jürgen S. entfernte sich von der Gruppe und griff geistesabwesend in seine Hosentasche, in der sich neben seinem Handy auch die Schlüsselkarte befand. Er ging die Treppe hoch und blieb vor der Tür mit der Aufschrift Technikraum – Haibecken. Zutritt nur für Berechtigte stehen. Von hier gelangte man zu einer Plattform, von der aus Techniker, Biologen oder Fischkundler einen direkten Zugang zum Wasser hatten. Ohne lange zu überlegen, öffnete er mit seiner Schlüsselkarte die Tür. Die Salzaufbereitungsanlage arbeitete auf Hochtouren, aber das nahm Jürgen S. gar nicht mehr wahr. Nachdem er die Plattform erreicht hatte, hielt er für einen Augenblick inne, bevor er sich wie in Trance bis auf seine Boxershorts auszog.
Das Wasser war glasklar und die Rifflandschaft mit den Haien, den Rochen, den Zackenbarschen und den vielen anderen bunten Fischen erinnerte an ein Werbevideo für einen Tauchurlaub in der Südsee. Jürgen S. stellte sich an den Rand der Plattform, atmete tief durch und landete mit einem Kopfsprung im Haifischbecken. Das Wasser brannte in seinen Augen, aber Jürgen S. hielt sie offen. Mit kräftigen Tempi tauchte er nach unten und bereits nach wenigen Sekunden sah er hinter dem Glas leicht verzerrt die Kindergruppe stehen. Eines der Kinder deutete aufgeregt in seine Richtung, und sofort waren alle Handys auf ihn gerichtet. Blitzlichter zuckten und für einen kurzen Moment konnte er auch die Betreuerin erkennen, die ihn mit offenem Mund anstarrte. Er merkte, wie ihm langsam die Luft ausging, und es ihm immer schwerer fiel, gegen den Auftrieb anzukämpfen. Sophia hatte sich nach vorne gedrängt und stemmte ihre kleinen Hände gegen das Glas, so als würde sie versuchen, die Barriere zu durchstoßen, um ihren Vater zu retten. Tränen liefen über ihre Wangen, aber Jürgen S. wusste, dass es kein Zurück mehr gab. Mit letzter Kraft hielt er sich an den gezackten Steinen des Riffs fest und blickte Sophia tief in die Augen. In seinen Ohren dröhnte es und auch wenn seine Lungen zu platzen schienen, ließ er die Steine nicht los. Die Schmerzen in seinem Körper wurden immer unerträglicher und er begann, Wasser zu schlucken.
Die Haifische kamen immer näher und umkreisten Jürgen S. Plötzlich schoss der größte Hai nach vorne und verbiss sich in den Oberarm des Eindringlings. Bevor es dunkel um ihn herum wurde, sah Jürgen S. noch, wie seine Tochter mit ihren winzigen Fäusten verzweifelt gegen das Glas des Aquariums trommelte, dessen Wasser sich blutrot färbte.

Eine Stadt. Ein Buch, November 2020

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