Tote Teufel beißen nicht

Tote Teufel beißen nicht

Auf Tasmanien gibt es nicht nur viel Wald, sondern auch jede Menge überfahrene Tiere

Von Kurt Palm

Um eines gleich vorwegzunehmen: Ich bin weder Metzger noch Jäger und töte Tiere nur, wenn es unbedingt sein muß. Eine Fliege, zum Beispiel, kann mich stundenlang sekkieren, ehe ich zur Klatsche greife, um ihr damit den Garaus zu machen. Und einer fußkranken Henne schlage ich erst dann mit einer Hacke den Kopf ab, wenn mich die alte Frau Kürzl in Oberranna inständig darum bittet. Daß ein solches Huhn dann nicht gegessen, sondern im Wald entsorgt wird, versteht sich von selbst. Der Fuchs soll ja auch etwas davon haben und Recycling wird in Oberranna seit jeher groß geschrieben.  

Wenn ich mich also in meinen Urlauben auf die Jagd nach toten Tieren begebe, dann hat das nichts mit einer absonderlichen Veranlagung zu tun, sondern damit, daß ich auf diese Weise etwas über die Fauna des jeweiligen Landes und über das Verhältnis seiner Bewohner zu ihrer Tierwelt erfahren möchte.

Ein kleines Beispiel: Wenn in Südafrika ein Strauß von einem LKW überfahren wird – was häufiger vorkommt, als man glaubt –, dauert es keine fünf Minuten und schon tauchen die ersten Schwarzen auf, die das Tier von der Straße zerren. Der naheliegende Grund: Die schwarze Landbevölkerung Südafrikas ist arm und ein Strauß wird als willkommene Ergänzung zum Speiseplan immer gerne angenommen. 

Wenn hingegen in Tasmanien ein Wallaby, das ist ein kleines Känguruh, überfahren wird, liegt es trotz sommerlicher Temperaturen von 30 ° solange auf der Straße, bis es entweder von anderen Tieren aufgefressen wird oder verwest ist. Obwohl Wallaby-Fleisch sehr bekömmlich sein soll, würde ein Tasmanier nie auf die Idee kommen, ein solches Tier mit nach Hause zu nehmen, um es küchenmäßig zu verarbeiten. Den Menschen in Tasmanien geht es – noch – so gut, daß sie es nicht nötig haben, sich von überfahrenen Tieren zu ernähren.  

Aber dieser soziologische Aspekt steht nicht wirklich im Mittelpunkt meines Interesses an überfahrenen Tieren in fernen Ländern. Mich fasziniert dabei vielmehr die Möglichkeit, Tiere in ihrer natürlichen Umgebung aus nächster Nähe betrachten zu können. Wann hat man schon die Möglichkeit, einem Känguruh oder Wombat ins – zugegebenermaßen tote – Auge zu blicken? Außerdem ergeben sich bei längerfristigen Beobachtungen gewisse Zusammenhänge, die Rückschlüsse auf das Verhalten bestimmter Tierarten zulassen. Angewandte Naturkunde sozusagen.

Während meines Urlaubs in Tasmanien ist mir zum Beispiel aufgefallen, daß Possums in den Nächten vor Vollmond regelrecht „durchdrehen“ und massenhaft auf den Straßen herumrennen, wo sie dann natürlich überfahren werden. Auf der 38 Kilometer langen Strecke zwischen Huonville und Hobart habe ich einmal 63 tote Possums und 17 überfahrene Wallabies gezählt! Nicht gezählt habe ich die zahlreichen toten Vögel, die allerdings meist als „innocent bystanders“ ihr Leben lassen müssen, weil sie nicht mehr rechtzeitig vor den herannahenden Fahrzeugen flüchten können, während sie von den Kadavern fressen. 

Interessanter als viel befahrene Straßen sind für den Jäger toter Tiere natürlich abgelegene Landstraßen in Waldgebieten, wo sich Wombat und Possum „Good Night“ sagen und man daher auch die eine oder andere exotische Spezies zu sehen bekommt. Tasmanien ist in dieser Hinsicht eine „Trauminsel“, weil ein großer Teil des Landes aus Wäldern besteht, die teilweise noch nicht einmal erforscht sind. Kein Wunder also, daß in den riesigen Nationalparks immer wieder Wanderer verloren gehen und nie wieder auftauchen. Daß der Tasmanische Tiger hier seine Krallen im Spiel hat, ist allerdings unwahrscheinlich, gilt er doch seit 1936 als ausgestorben. Ganz sicher sind sich die Experten freilich nicht, denn ähnlich wie beim Yeti tauchen immer wieder Augenzeugen auf, die beschwören, dem Tasmanischen Tiger begegnet zu sein. Nicht zu verwechseln ist dieses fleischfressende Beuteltier von der Größe eines Hundes mit dem wesentlich kleineren Tasmanischen Teufel, der seinen Namen der Tatsache verdankt, daß er einen „höllischen“ Lärm macht, wenn er sich bedroht fühlt. Da der Tasmanische Teufel aber ein nachtaktives Tier ist, wird man ihm nur in Ausnahmefällen in freier Wildbahn begegnen. Außer, er überquert gerade eine Straße und wird dabei über den Haufen gefahren.

Ganz anders verhält es sich mit den Possums, jenen niedlichen einstigen Pelzlieferanten, deren massenhaftes Auftreten in Tasmanien auch damit zusammenhängt, daß in Europa ihr Pelz seit geraumer Zeit nicht mehr gefragt ist. Nicht weiter verwunderlich also, daß die Possums, die sich noch dazu gerne in der Nähe menschlicher Siedlungen aufhalten, zu den am häufigsten überfahrenen Tieren auf Tasmaniens Straßen gehören. 

So gesehen erzählen tote Tiere auch etwas über Veränderungen in den komplexen Beziehungen zwischen Natur und Zivilisation. Überfahrene Känguruhs, Possums oder  Echsen sind ja auch ein Zeichen dafür, daß der Mensch immer weiter in jene Räume vordringt, die bisher diesen Tieren vorbehalten waren. In Tasmanien kommt beispielsweise der holzverarbeitenden Industrie eine immer größere Bedeutung zu, was die Rodung riesiger Waldgebiete zur Folge hat. Dadurch werden viele Tiere gezwungen, sich neue Lebensräume zu suchen, wodurch sie wiederum mit den Menschen in Konflikt geraten. Daß an einer solchen Schnittstelle zwischen Natur und Zvilisation die Tiere im wahrsten Sinn des Wortes auf der Strecke bleiben, liegt auf der Hand. Angesichts der Schäden, die Känguruhs, Possums, Wombats und diverse Vogelarten – angeblich – anrichten, wird übrigens bereits darüber diskutiert, einige Tierarten zum Abschuß freizugeben.  

Aber selbstverständlich hat die 67.800 km2 große Insel Tasmanien mehr zu bieten als überfahrene Tiere. Da wären zum Beispiel die siebzehn Nationalparks, in denen es Wanderrouten mit einer Gesamtlänge von mehr als 2.000 Kilometern gibt. Der Großteil dieser Wege führt allerdings durch Gegenden, wo einem oft tagelang kein Mensch begegnet. Das heißt, daß solche Wanderungen penibelst vorbereitet werden müssen, denn wer sich in einem der Nationalparks einmal verlaufen hat, wird nur mit großem Glück wieder in die Zivilisation zurückfinden. Zweimal falsch abgebogen und schon hat man das Gefühl, sich in einer Kulisse für einen Horrorfilm wie „Blair Witch Project“ zu befinden. Da nützt es einem dann auch nichts, daß man bei einer allfälligen Begegnung mit einer Schlange nicht lange überlegen muß, ob es sich dabei um ein giftiges oder nicht giftiges Exemplar handelt, da sämtliche auf Tasmanien vorkommenden Schlangenarten tödlich giftig sind.

Bei aller Begeisterung für die tasmanische Landschaft sollte man aber nicht vergessen, daß man sich hier auf blutgetränkter Erde bewegt. Während die Entdeckung der Insel durch den niederländischen Seefahrer Abel Janszoon Tasman im Jahre 1642 nämlich noch weitgehend ohne Folgen für die Ureinwohner blieb, bedeutete die Ankunft der Engländer das Ende der Aborigines. Nachdem die Briten Anfang des 19. Jahrhunderts begonnen hatten, Tasmanien zu einer Sträflingskolonie auszubauen, starteten sie einen grausamen Vernichtungsfeldzug gegen die Aborigines, die innerhalb weniger Jahrzehnte vollständig ausgerottet wurden. Völkermord würde man heute dazu sagen. Als 1876 mit Truganini die letzte Ureinwohnerin Tasmaniens starb, betrug die Zahl der aus Europa Eingewanderten bzw. aus England Deportierten bereits 110.000, von denen 70.000 Sträflinge waren. Verständlich also, daß die Tasmanier ungern daran erinnert werden, daß die Vorfahren der meisten der 450.000 Einwohner der Insel entweder Sträflinge oder Soldaten waren. Schließlich hat niemand gerne einen Mörder, Bankräuber oder Schweinedieb in seinem Stammbaum.

Die Presse, 2. November 2006

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