Da jubelt die „Ostmark“

Als die oberösterreichische Landesregierung im Jahr 2017 beschloss, den deutschnationalen „Landesdelegiertenconvent der pennalen Korporationen“ mit 120.000 Euro zu fördern, war die Aufregung groß. Schließlich sind in diesem Convent fünfzehn Burschenschaften mit so klingenden Namen wie „Ostmark zu Linz“, „Germania Ried“ oder „Normannia Brünn zu St. Florian“ versammelt, die aus ihrer Ideologie auch gar kein Hehl machen und sich ausdrücklich „zur deutschen Volks- und Kulturgemeinschaft“ bekennen.
Soweit, so gruselig. Brisant wird die Angelegenheit aber, wenn man weiß, dass der Beschluss damals auch mit den Stimmen des grünen Landesrats Rudolf Anschober gefällt wurde.
Auf die Frage, weshalb er für die Subventionierung dieser eindeutig rechts gerichteten Gruppierungen gestimmt habe, sagte Rudolf Anschober:
„Der nächste Antrag wird von uns auf Herz und Nieren überprüft werden und es wird Bedingungen geben. Die Förderungen, die vergangenes Jahr (2017) beschlossen wurden, sind aus meiner Sicht weit überzogen und gehen ja auch ein Vielfaches darüber hinaus, was andere Organisationen bekommen. Ich persönlich kann mir eine Zustimmung in dieser Größenordnung in Zukunft nicht mehr vorstellen.“
Das war 2018. Groß war also das Erstaunen, als dieser Tage die „Solidarwerkstatt“ in Linz aufdeckte, dass 2020 die rechtsextremen Burschenschaften in OÖ erneut mit 110.000 Euro gefördert wurden, und dass die Grünen wieder zugestimmt hatten, dieses Mal in der Person von Landesrat Stefan Kaineder. Nur die SPÖ legte sich quer und verlangte eine gesonderte Abstimmung über das en bloc zur Abstimmung gebrachte Kapitel „Jugendsubventionen“, was Schwarz, Blau und Grün allerdings verhinderten.
Richtig ist, dass Herr LR Kaineder eine Protokollnotiz anbringen ließ, dass er gegen die Förderung der Burschenschaften sei, was de jure und de facto aber nichts daran änderte, dass das Gesamtpaket (also auch die Subventionen an die Burschenschaften) auch mit den Stimmen von LR Kaineder beschlossen wurde. Die Protokollnotiz war also eine reine Alibiaktion, da die Subventionen in der beschlossenen Höhe an die Burschenschaften ausbezahlt wurden.
In den letzten zehn Jahren haben die rechtsextremen Burschenschaften in Oberösterreich von der Landesregierung insgesamt 835.000 Euro für „Jugendarbeit, Persönlichkeitsbildung, Freizeitgestaltung, Fortbildung sowie Miete und Betriebskosten“ erhalten. Vermutet darf also werden, dass von diesem Geld nicht nur die Auftritte neonazistischer Liedermacher bezahlt wurden, sondern auch der Auftritt von Identitären-Chef Martin Sellner, der 2017 auf Einladung der Burschenschaft „Eysn zu Steyr“ einen Vortrag zum Thema „Defend Europe“ hielt.
Vor diesem Hintergrund darf an der Aufrichtigkeit von Landeshauptmann Thomas Stelzer gezweifelt werden, der vor Kurzem bei einer Veranstaltung in der Gedenkstätte Hartheim sagte: „Wir dulden in Oberösterreich keinen Antisemitismus, keinen Rassismus und keinen Extremismus.“
Dass die Förderung der rechtsextremen Burschenschaften allerdings kein Zufall ist, zeigt sich auch daran, dass LH Stelzer im März 2020 zwei Mitgliedern des „Landesdelegiertenconvents der pennalen und fachstudentischen Corporationen“ für deren „außergewöhnliche Verdienste und hervorragende Leistungen“ das „Ehrenzeichen für Verdienste um die Jugend“ überreichte.
Bedenklich ist diese Politik auch im Hinblick darauf, dass Oberösterreich seit Jahren die meisten rechtsradikalen Straftaten aller Bundesländer zu verzeichnen hat, und man darf schon die Frage stellen, welche Signale die Landesregierung mit ihrer Subventionspraxis aussenden will.
„Wir werden es als Gesellschaft niemals hinnehmen, dass Menschen in unserer Mitte ihre Ideologien und Waffen gegen unser Land, unsere Werte und unsere Lebenskultur richten. Diesen Gefahren und Gefährdern werden wir uns mit aller Entschiedenheit entgegenstellen.“
Diese Worte von LH Thomas Stelzer finden sich im Jahreskalender der ÖVP OÖ, der dieser Tage großflächig in den oberösterreichischen Landgemeinden verteilt wurde. Wen Stelzer mit den „Gefährdern“ meinte, ließ er offen, die Rechtsradikalen und Deutschnationalen werden damit aber wohl nicht gemeint sein.

„Der Standard“, Kommentar der anderen, 25. Jänner 2021

Der Sprung

Jürgen S. hatte nach dem Frühstück eine Cipralex genommen. Wegen der sich häufenden Panikattacken hatte er die Dosis ohne Rücksprache mit seiner Ärztin von 5 auf 20 mg erhöht, aber auch das änderte nichts an seinem Zustand. Er fühlte sich, als wäre er in Watte gepackt, und es fiel ihm schwer, seine Umwelt als etwas Reales wahrzunehmen. Die dritte Nacht infolge hatte er kaum geschlafen und er spürte, wie sich eine ungeheure Müdigkeit in seinem Körper ausbreitete. Außerdem hatte er Kopfschmerzen und ihm war übel.
Er stand vor dem Aquarium mit dem blauen Hintergrund, in dem sich die Kanonenkugel-Quallen nach einer geheimnisvollen Choreographie bewegten. Schwerelos schwebten die gallertartigen Tierchen im Wasser und bildeten bizarre Formationen. Er hielt seine fünfjährige Tochter Sophia an der Hand und versuchte, wenigstens auf diese Weise einen Kontakt zu ihr herzustellen, aber es gelang ihm nicht. Er hätte nicht einmal sagen können, ob es seine oder ihre Hand war, die schwitzte. Unbeteiligt verfolgte er den Tanz der Nesseltiere und er fragte sich, warum er nicht als Qualle geboren worden war.
„Sind die giftig?“, fragte Sophia.
Jürgen S. warf einen Blick auf den Monitor, der neben dem Aquarium an der Wand hing. „Nein, in Asien werden diese Quallen sogar gegessen, und in der Medizin verwendet man sie gegen Bluthochdruck, Bronchitis und Arthritis.“
Sophia war verwirrt. „Waaas?“ Sie zog das a in die Länge, um zu unterstreichen, dass sie von Bluthochdruck, Bronchitis und Arthritis keine Ahnung hatte. „Ich möchte die nicht essen, die sehen so slabberig aus. Ich mag lieber Pommes mit Ketsup. Komm, gehen wir zur großen Sildkröte.“ Sophia zog ihren Vater weg vom Aquarium, blieb aber gleich wieder stehen, als ein Buggy an ihnen vorbeigeschoben wurde. Gebannt starrte sie in das Innere des Wagens, in dem ein kleines Baby schlief. Jürgen S. hätte gerne gewusst, weshalb seine Tochter so fasziniert von Babys war, aber wahrscheinlich war das normal für Mädchen in ihrem Alter. Jetzt fiel ihm ein, dass sie Sophias Puppe im Auto vergessen hatten.
Er merkte, dass er kaum noch die Augen offen halten konnte und dass sein Herz viel zu schnell schlug. Ein deutliches Anzeichen dafür, dass wieder eine der gefürchteten Panikattacken im Anmarsch war. Sein Handy klingelte; mechanisch holte er es aus seiner Hosentasche. Es war seine Ex-Frau, die wahrscheinlich erst jetzt vom Kindergarten informiert worden war, dass er Sophia abgeholt hatte, obwohl er dazu gar nicht berechtigt gewesen wäre. Aber die neue Kindergärtnerin hatte nichts dagegen einzuwenden gehabt. Warum auch, schließlich war er Sophias Vater. Jürgen S. wischte über das Display und schaltete das Handy aus. Er hatte seiner Ex-Frau nichts mehr zu sagen. Es war eine spontane Idee gewesen, mit Sophia wieder einmal ins Haus des Meeres zu gehen. Dabei hatte er gar nicht damit gerechnet, dass es mit der Abholung klappen würde. Ausnahmsweise hatte er einmal Glück gehabt.
Nachdem sie die elektronische Eingangskontrolle passiert hatten, wollte Sophia als Erstes in den Souvenirladen, um sich die Plüschversion einer Schildkröte zu kaufen. Aber Jürgen S. hatte keine Lust, Geld für ein überteuertes ausgestopftes Stoffteil auszugeben, nur weil es die Form einer lächelnden Schildkröte hatte. Die Plastikschlangen wären billiger gewesen, allerdings bezweifelte er, dass sich seine Tochter darüber gefreut hätte. Neben den Plüsch- und Plastiktieren gab es auch noch Bleistifte, Tassen und Kappen mit Haifisch- oder Schildkrötenmotiven.
Ein Jahr lang war Jürgen S. im Haus des Meeres ein- und aus gegangen, nachdem das Architekturbüro, in dem er bis vor kurzem gearbeitet hatte, mit der Neugestaltung der Fassade und des Obergeschosses beauftragt worden war. Das war auch der Grund, weshalb er immer noch die Schlüsselkarte besaß, die er eigentlich schon längst hätte abgeben müsste. Jürgen S. blickte sich um und war froh, keinem der Angestellten zu begegnen. Jedes Gespräch wäre ihm heute schwer gefallen.
„Komm, gehen wir“, sagte er müde zu seiner Tochter. „Die Schildkröte wartet.“
Sophia hätte dem schlafenden Baby gerne noch länger zugesehen, aber nach kurzem Zögern folgte sie dann doch ihrem Vater. Sie griff nach seiner Hand und schmiegte sich wegen der vielen Menschen enger an ihn. Jürgen S. bekam eine Gänsehaut, weil er die Nähe seiner Tochter nicht mehr gewohnt war. Überhaupt hatte er schon lange keinen körperlichen Kontakt mehr gespürt.
Auf einem Monitor las er, dass die Fütterung der Haifische um 15 Uhr 30 stattfand. So lange würde er nicht durchhalten.
Vor dem Terrarium mit drei riesigen Anakondas blieben sie stehen. Eine der Schlangen hatte ihren massigen Körper gegen das Glas gedrückt, und ein paar Kinder machten sich einen Spaß daraus, ihre Hände ebenfalls gegen das Glas zu drücken. „Igitt, ist das gruselig“, kreischte eine junge Mutter, „hoffentlich bricht das Glas nicht, dann würden euch die Schlangen nämlich auffressen.“ Sophia warf ihrem Vater einen fragenden Blick zu. Jürgen S. zuckte aber bloß mit den Schultern.
Im Sekundentakt wurden Handyfotos von den Schlangen gemacht. Argwöhnisch beobachtete Sophia die erstaunlich dicken Anakondas, die regungslos in ihrem Gefängnis lagen. Jürgen S. wusste nicht, wieviel Platz Anakondas in ihrer natürlichen Umgebung brauchten, aber er fragte sich, ob den Tieren überhaupt bewusst war, dass sie für immer eingesperrt waren.
Ein pflichtbewusster Vater las seiner Frau und seinen beiden Kindern vor, was auf dem Monitor zu lesen war:
„Anakondas zeigen ein einzigartiges Paarungsverhalten. Mehrere Männchen umschlingen das sehr viel größere Weibchen und bilden ein Paarungsknäuel. Solch ein Knäuel kann bis zu vier Wochen bestehen. Nach einer Tragzeit von sechs bis acht Monaten kommen die fertig entwickelten Jungtiere lebend zur Welt. Ihre Anzahl beträgt bis über 100. Sie sind bei der Geburt bis zu 90 Zentimeter lang und 400 Gramm schwer. Es kommt häufig vor, dass das geschwächte Weibchen einige Jungtiere frisst.“
„Geh, das ist aber grauslich“, sagte seine Frau mit gespieltem Entsetzen und verzog das Gesicht. Dabei führten ihre Haare, die zu einer schlampige Assi-Palme gebunden waren, einen eigenartigen Tanz auf.
„Waaas?“ Sophia sah ihren Vater an.
„Ach, nichts. Komm, gehen wir weiter.“
In einer durchsichtigen Kunststoffröhre, die in Augenhöhe an den Gangwänden montiert war und sich durch das ganze Haus des Meeres zog, schleppten Ameisen unermüdlich winzige Materialien zu einem Bau, von dem Jürgen S. aber nicht wusste, wo er sich befand. Gab es dieses Rohr schon länger? Während der Umbauzeit war es ihm nicht aufgefallen.
Sie betraten einen abgedunkelten Raum, in dem in schummrig beleuchteten Terrarien verschiedene Spinnen ihr trauriges Dasein fristeten. Bei der riesigen Vogelspinne war sich Jürgen S. allerdings nicht sicher, ob das Tier echt war oder ob es sich um ein Präparat handelte. Lange starrte er die pelzige Spinne an, die entweder schlief, sich tot stellte oder eine Leihgabe des Naturhistorischen Museums war. Tot stellen wäre auch eine Lösung, dachte er. „Möchtest du die Krokodile sehen?“, fragte Jürgen S., um zu signalisieren, dass er den Ausflug mit seiner Tochter ernst nahm.
„Vor Krokodilen habe ich Angst“, antwortete Sophia. Wenn es nur die Krokodile wären, dachte Jürgen S. und merkte, wie die Schmerzen in seiner Brust immer heftiger wurden. Er atmete tief durch, ohne dass sich sein Zustand gebessert hätte. Treiben Sie regelmäßig Sport; sorgen Sie für ausreichend Schlaf; essen Sie kleinere Mahlzeiten und meiden Sie Koffein, Nikotin und psychaktive Drogen, hatte ihm seine Ärztin geraten, aber er konnte mit diesen Empfehlungen nichts anfangen.
„Papa, schau, was ist denn das für ein hässliches Tier?“
Das Wort Papa ließ Jürgen S. zusammenzucken. Er hatte es schon lange nicht mehr gehört. Sophia deutete auf den chinesischen Riesensalamander, der in der Tat abschreckend aussah. Jürgen S. war während der Zeit des Umbaus oft vor dem Aquarium gestanden und hatte sich gefragt, weshalb dieses Tier, das in China in Bächen und Flüssen lebt, so stark bejagt wurde. Aßen die Chinesen tatsächlich solche Riesensalamander, die bis zu zwei Meter lang wurden? Er konnte sich nicht annähernd vorstellen, wie Salamander-Fleisch schmeckte, vertrieb den Gedanken aber gleich wieder, weil er sich sonst hätte übergeben müssen.
Noch bevor das Architekturbüro, in dem er gearbeitet hatte, mit den Umbauarbeiten für das Haus des Meeres beauftragt worden war, hatte es Diskussionen darüber gegeben, ob es überhaupt vertretbar war, eine Attraktion wie das Haus des Meeres in einem Flakturm unterzubringen. Immerhin waren die Flaktürme in Wien auf Befehl Adolf Hitlers erbaut worden und noch 1955 hatte der Architekt der Türme festgestellt, dass in den Flaktürmen der militärische Auftrag am stärksten zu einer plastischen Gesamtform gediehen sei. Jürgen S. hatte oft ein mulmiges Gefühl gehabt, wenn er daran dachte, dass dort, wo jetzt bunte Meeresfische schwammen, tausende Fremd- und Zwangsarbeiter zum Bau des Flakturms eingesetzt wurden und Hunderte von ihnen dabei den Tod fanden.
„Das ist ein chinesischer Riesensalamander, der ist harmlos.“
„Aber der ist größer als ich. Kann mich der fressen?
Jürgen S. versuchte zu lächeln. „Nein, der ernährt sich von Fischen und Krebsen.“
„Ich mag zur großen Schildkröte“, quengelte Sophia und zog ihren Vater weg vom Riesensalamander. „Flora hat zwei Schildkröten und darf sie sogar streicheln. Warum bekomme ich keine Schildkröten?“
„Da musst du Mama fragen“, antwortete Jürgen S. nüchtern.
„Aber Mama sagt immer, dass Schildkröten oft krank sind und dass sie dann zum Tierarzt müssen.“
„Das weiß ich nicht, ich kenne mich mit Schildkröten nicht aus.“
Sophia schien darüber nachzudenken, was die Antwort ihres Vaters bedeutete, und runzelte die Stirn.
„Komm, fahren wir mit dem Aufzug in den dritten Stock.“ Er war zu müde zum Treppensteigen.
Vor dem riesigen Aquarium mit der Rifflandschaft drängte sich ein Pulk von Kindern, von denen eines einen herzförmigen Luftballon mit der Aufschrift HAPPY BIRTHDAY in der Hand hielt. Die Kinder trugen Papp-Kronen eines Fast-Food-Restaurants. Viele von ihnen waren wahrscheinlich jetzt schon zuckerkrank oder würden es in absehbarer Zukunft werden. Neben dem Mädchen mit dem Luftballon stand eine Mitarbeiterin des Hauses des Meeres.
„Schau dir diesen riesigen Rochen an, sein Schwanz ist giftig, wenn der dich sticht, stirbst du“, klärte ein Vater seinen Sohn auf, der nicht zur Geburtstagsgruppe gehörte. Aber statt seinem Vater zuzuhören, blickte der Junge neidisch auf das Mädchen mit dem Luftballon. „Dort, siehst du, zwischen den Felsen, da schaut eine Muräne heraus. Von der möchte ich nicht gebissen werden.“ Und nachdem er einen Blick auf den Monitor geworfen hatte, fügte er hinzu: „Es ist eine Grüne Muräne, die kann bis zu zwei Meter fünfzig lang werden.“
„He, schau, dieser riesige Fisch, wie heißt der?“, fragte ein dicker Junge aus der Geburtstagsgruppe.
„Das ist ein Riesenzackenbarsch“, antwortete die Betreuerin mit einem zufriedenen Lächeln.
„Ist der gefährlich?“
„Nein, natürlich nicht.“ Die Frau klatschte in die Hände. „So, nachdem sich Betty zu ihrem Geburtstag einen Besuch bei unserer berühmten Schildkröte gewünscht hat, werde ich euch jetzt ein bisschen etwas über ihr Leben erzählen.“
Sophia sah ihren Vater an, der ihr aufmunternd zunickte, woraufhin sie sich unter die Gruppe mischte. Der Junge neben ihr warf ihr wegen ihrer fehlenden Papp-Krone einen abfälligen Blick zu.
„So, wie jeder von euch einen Namen hat, hat auch unsere Riesenschildkröte einen Namen. Und zwar heißt sie Puppi. Wer von euch hat schon einmal eine Riesenschildkröte gesehen?“
Die Frage verhallte ungehört im Raum, weil die Kinder entweder ins Aquarium starrten oder sich mit ihren Handys beschäftigten.
„Dort ist sie“, rief ein Mädchen, und tatsächlich tauchte in diesem Augenblick die Schildkröte auf und schnappte nach etwas Essbarem, das wie ein Büschel Gras aussah. Ein paar Kinder machten Handyfotos, dann verschwand die Schildkröte wieder hinter einer Felsformation.
Jürgen S. hatte sich in der Zwischenzeit von der Gruppe entfernt und sich auf einen Stuhl neben einem Kaffeeautomaten gesetzt. Er atmete tief durch, aber die Angst ließ sich nicht abschütteln. Sie schien sich in seinem Inneren festgekrallt zu haben. Er kratzte sich am Unterarm und fixierte einen Punkt an der Wand. Wenn er allein gewesen wäre, hätte er sich jetzt einfach auf den Boden gelegt. Reflexartig holte er sein Handy hervor und schaltete es ein. Die fünf Anrufe in Abwesenheit waren allesamt von seiner Ex-Frau. Er schaltete das Handy wieder aus und ging zur Geburtstagsgruppe zurück.
„… die Frau zahlte einen Dollar für die winzige Baby-Schildkröte, die sie damit vor dem sicheren Tod rettete. In ihrer Handtasche schmuggelte sie Puppi nach Wien, wo sie ein eigenes Aquarium bekam und sich gleich sehr wohl fühlte.“
Jürgen S. kam sich vor wie in einer Märchenstunde. Während die Betreuerin weiter erzählte, beobachtete er die Riffhaie und die Riesenzackenbarsche, die unaufhörlich ihre Runden drehten. Für sie gab es kein Entkommen, genau wie für ihn. Es war jetzt 13 Uhr, die Fütterung der Haifische würde erst um 15 Uhr 30 beginnen, so lange konnte er nicht mehr warten. Er musste raus hier, aber Sophia schien von Puppis Lebensgeschichte ganz begeistert zu sein.
„Eines Tages bekam Puppi sogar eine Lungenentzündung, konnte aber zum Glück durch die Verabreichung von Hühner-Antibiotika wieder geheilt werden.“
„Was ist Hühnerbiotika?“, fragte ein Mädchen.
„Antibiotika“, klärte sie die Märchentante auf, „das ist ein Medikament, das man Hühnern gibt, wenn sie krank sind. Und Menschen auch.“
„Wie alt ist denn Puppi jetzt? Ich habe gelesen, dass Schildkröten einhundert Jahre alt werden können.“ Die Frage kam von dem Jungen, der neben Sophia stand, und sie nach seiner Frage triumphierend ansah.
„Puppi ist jetzt 44 Jahre alt und sie ist seit ihrem sechsten Lebensjahr im Haus des Meeres.“
„Feiert sie auch Geburtstag?“, wollte ein Mädchen mit Brille und Zahnspange wissen.
„Ja, und da bekommt sie dann immer ein Leckerli.“
Jürgen S. reichte es. Er nahm Sophia an der Hand. „Komm, gehen wir“, flüsterte er, weil er kein Aufsehen erregen wollte.
Aber Sophia riss sich los. „Nein, ich möchte nicht gehen. Ich möchte mir noch die Geschichte von Puppi anhören. Und ich möchte auch endlich eine Schildkröte haben.“
„Psst“, ermahnte sie der Junge neben ihr, der sich in der Rolle des Aufpassers sichtlich wohl fühlte.
„Unsere Puppi ist eine richtige Persönlichkeit, die Gefühle hat und die sogar traurig sein kann …“
Jürgen S. entfernte sich von der Gruppe und griff geistesabwesend in seine Hosentasche, in der sich neben seinem Handy auch die Schlüsselkarte befand. Er ging die Treppe hoch und blieb vor der Tür mit der Aufschrift Technikraum – Haibecken. Zutritt nur für Berechtigte stehen. Von hier gelangte man zu einer Plattform, von der aus Techniker, Biologen oder Fischkundler einen direkten Zugang zum Wasser hatten. Ohne lange zu überlegen, öffnete er mit seiner Schlüsselkarte die Tür. Die Salzaufbereitungsanlage arbeitete auf Hochtouren, aber das nahm Jürgen S. gar nicht mehr wahr. Nachdem er die Plattform erreicht hatte, hielt er für einen Augenblick inne, bevor er sich wie in Trance bis auf seine Boxershorts auszog.
Das Wasser war glasklar und die Rifflandschaft mit den Haien, den Rochen, den Zackenbarschen und den vielen anderen bunten Fischen erinnerte an ein Werbevideo für einen Tauchurlaub in der Südsee. Jürgen S. stellte sich an den Rand der Plattform, atmete tief durch und landete mit einem Kopfsprung im Haifischbecken. Das Wasser brannte in seinen Augen, aber Jürgen S. hielt sie offen. Mit kräftigen Tempi tauchte er nach unten und bereits nach wenigen Sekunden sah er hinter dem Glas leicht verzerrt die Kindergruppe stehen. Eines der Kinder deutete aufgeregt in seine Richtung, und sofort waren alle Handys auf ihn gerichtet. Blitzlichter zuckten und für einen kurzen Moment konnte er auch die Betreuerin erkennen, die ihn mit offenem Mund anstarrte. Er merkte, wie ihm langsam die Luft ausging, und es ihm immer schwerer fiel, gegen den Auftrieb anzukämpfen. Sophia hatte sich nach vorne gedrängt und stemmte ihre kleinen Hände gegen das Glas, so als würde sie versuchen, die Barriere zu durchstoßen, um ihren Vater zu retten. Tränen liefen über ihre Wangen, aber Jürgen S. wusste, dass es kein Zurück mehr gab. Mit letzter Kraft hielt er sich an den gezackten Steinen des Riffs fest und blickte Sophia tief in die Augen. In seinen Ohren dröhnte es und auch wenn seine Lungen zu platzen schienen, ließ er die Steine nicht los. Die Schmerzen in seinem Körper wurden immer unerträglicher und er begann, Wasser zu schlucken.
Die Haifische kamen immer näher und umkreisten Jürgen S. Plötzlich schoss der größte Hai nach vorne und verbiss sich in den Oberarm des Eindringlings. Bevor es dunkel um ihn herum wurde, sah Jürgen S. noch, wie seine Tochter mit ihren winzigen Fäusten verzweifelt gegen das Glas des Aquariums trommelte, dessen Wasser sich blutrot färbte.

Eine Stadt. Ein Buch, November 2020

Ein Pass für einen Totentanz

Schreckensmeldung stand zuerst in den „Salzburger Nachrichten“: „Kulturbolschewistische Atombombe auf Österreich abgeworfen“. Das rechtsgerichtete Kampfblatt „Die Neue Front“ stellte die kryptische Frage: „Wer schmuggelte das Kommunistenpferd in das deutsche Rom?“ In anderen Blättern war noch die Rede vom „Poeten des Teufels“, von einer „literarischen Ausgeburt“ und vom „größten Kulturskandal der Zweiten Republik“.

Den Anlass für diese Pamphlete, die Ende 1951 in österreichischen Zeitungen erschienen, bildete ein Dokument, das bereits am 12. April 1950 von der Salzburger Landesregierung ausgestellt worden war, nämlich die „Urkunde über die Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft an Herrn Berthold Brecht, Beruf: Schriftsteller, geboren am 10. Februar 1898 in Augsburg“. Monatelang stand die durch diese Urkunde ausgelöste „Affäre Brecht“ im Mittelpunkt des medialen Interesses und beschäftigte in weiterer Folge nicht nur den Salzburger Landtag, sondern auch den Nationalrat und den Ministerrat.

Im Zuge dieser Auseinandersetzungen verwandelten sich die Federn zahlreicher Journalisten in Schwerter, um den Kampf gegen das Böse schlechthin wirkungsvoller führen zu können. Dieses Böse, das nicht mehr nur wie ein Gespenst in Europa umging, war der Kommunismus, der in der Person des Schriftstellers Bertolt Brecht Österreich unterwandern und reif für den Untergang machen sollte. 

Der Chefredakteur der „Neuen Front“, Viktor Reimann, machte am 13. Oktober 1951 klar, worum es in Wirklichkeit ging: „Die Einbürgerung Bert Brechts zeigt, wie durch den Übereifer einzelner intellektueller Sozialisten und durch die Unwissenheit und Schwäche der kulturellen Machthaber der Volkspartei unser Land kommunistisch unterminiert wird und die Amerikaner die geistige Bolschewisierung Österreichs noch finanzieren.“

Wenn man angesichts solcher Gedankengänge heute ungläubig den Kopf schüttelt, sollte man nicht vergessen, dass zu Beginn der fünfziger Jahre der Kalte Krieg längst in vollem Gange war, was natürlich auch Auswirkungen auf das kulturelle Leben hatte. 

So ging es im Falle Brechts ja nicht nur um die Denunzierung eines Schriftstellers, sondern auch um die Abrechnung mit einer Kunstauffassung, die im stramm antikommunistischen Österreich keinen Platz hatte. Und Brecht gehörte bekanntlich zu denen, die – wie es Thomas Mann bereits 1944 formulierte – im „Antikommunismus die Grundtorheit unserer Epoche“ sahen.

Die Gedankengänge derer, die damals im österreichischen Kulturbetrieb das Sagen hatten, sind heute in vielen Fällen schwer nachvollziehbar. So schrieb der Schriftsteller Friedrich Torberg, einer der größten Brecht-Hasser seiner Zeit, „dass selbst Hänschen klein kommunistische Propaganda wäre, wenn Brecht als Verfasser zeichnete.“

Diese Äußerungen wurde 1961 zu einem Zeitpunkt gemacht, als es in Österreich bereits einen seit acht Jahre fast lückenlos durchgehaltenen Brecht-Boykott gab. Natürlich ging es Torberg nicht alleine um die Diffamierung Brechts, sondern auch um die Diskreditierung all jener Künstlerinnen und Künstler, die im Verdacht standen, zu liberal zu sein oder zu weit links zu stehen. Erwähnt seien hier stellvertretend Torbergs Hetze gegen die „Drecksau“ und „Filzlaus“ Hilde Spiel, und seine Angriffe auf Thomas Mann, Berthold Viertel oder Gottfried von Einem, die er  als „Diktaturcollaborateure“ bezeichnete.

Torbergs Kampagnen endeten nicht selten in dem Versuch, den jeweiligen Gegnern ihre Existenzgrundlage zu entziehen. Als beispielsweise bekannt wurde, dass der Schauspieler Karl Paryla bei den Salzburger Festspielen im Sommer 1952 im „Jedermann“ den Teufel spielen sollte, setzte Torberg alles daran, dieses Engagement zu hintertreiben. Im „Wiener Kurier“ bezeichnete er das KPÖ-Mitglied Paryla als „bedingungslosen Partisanen einer Diktatur, deren brutaler Terror sich nicht nur auf die Gedanken erstreckt, sondern aufs nackte Leben“, und forderte dessen Entlassung. Das Kuratorium der Salzburger Festspiele entsprach Torbergs Wunsch und „stornierte“ Parylas Engagement. 

Als zehn Jahre später Karl Paryla aus der DDR nach Wien zurückkehrte und an das Theater in der Josefstadt engagiert wurde, schrieb Torberg: „Es genügt nicht, daß Karl Paryla hierzulande ungestört leben, kommunistisch wählen und sich kommunistisch betätigen darf – nein, man muß ihn auch noch engagieren.“ 

Und als der Schauspieler Otto Tausig nach seiner Rückkehr aus der DDR mit dem damaligen Direktor des Theaters in der Josefstadt, Franz Stoß, wegen eines Engagements verhandelte, hielt Stoß in der einen Hand den Vertrag und in der anderen eine „Reueerklärung“, die sich auf Tausigs Zeit an dem von der KPÖ und den sowjetischen Behörden unterstützten „Neuen Theater in der Scala“ bezog. Stoß zu Tausig: „Diese Erklärung ist nicht für mich, sondern für den Weigel und den Torberg.“ Neben Friedrich Torberg gehörte Hans Weigel damals ebenfalls zu den Verfechtern einer strikt antikommunistischen Kulturpolitik.

Torbergs Hass auf Bertolt Brecht ging so weit, dass er während seines Exils in Kalifornien in seiner Funktion als Informant für das FBI auch Bertolt Brecht bespitzelte. In einem Bericht vom 30. März 1943 an das FBI ging Torberg zum Beispiel ausführlich auf Brechts Lehrstück „Die Maßnahme“ ein und berichtete, dass „the subject“ ein kommunistischer Schriftsteller sei, der gemeinsam mit dem Kommunisten Hanns Eisler „Das Solidaritätslied“ geschrieben habe. Zwei Wochen nach Vorlage von Torbergs Bericht erwog das FBI, Brecht zu internieren, verwarf diesen Plan allerdings nach einer neuerlichen Prüfung des Falls wieder.

In seiner Funktion als Informant für das „Office of War Informations“ regte Torberg im Juni 1945 in New York auch an, „the communist political cells“ in Hollywood genauer unter die Lupe zu nehmen. Kurze Zeit später hat das berüchtigte „Committee On Unamerican Activities“ die angeblichen „kommunistischen Zellen“ in Hollywood ja dann tatsächlich unter die Lupe genommen und linke und liberale Künstler vor den „Ausschuss zur Untersuchung unamerikanischer Tätigkeiten“ gezerrt, vor dem am 30. Oktober 1947 auch Bertolt Brecht aussagen musste. Die Ankläger, unter denen sich der spätere US-Präsident Richard Nixon befand, stützten sich in ihrer Argumentation wesentlich auf die von Torberg gesammelten Informationen. Als sogenannter „freundlicher Informant“ im Sinne der Anklage fungierte übrigens der Schauspieler Ronald Reagan.

Nachdem Brecht keine kommunistischen Umtriebe nachgewiesen werden konnten, verließ er umgehend die USA und kehrte nach Europa zurück. Als er am 1. November 1947 auf dem Flughafen von Paris landete, waren er und seine Frau, die Schauspielerin Helene Weigel, immer noch staatenlos, nachdem ihnen die nationalsozialistische Regierung 1935 die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt hatte. Nach fünfzehnjährigem Exil in Dänemark, Schweden, Finnland, der Sowjetunion und den USA ließ sich Brecht zunächst in der Schweiz nieder, um von dort aus die Lage zu sondieren. Wegen der ausländerfeindliche Politik der Schweizer Behörden, die sich vor allem gegen die aus dem Exil zurückgekehrten Staatenlosen richtete, war für Brecht aber bald klar, dass er nicht in der Schweiz bleiben konnte.

In dieser schwierigen Situation lernte er im Frühjahr 1948 in Zürich den jungen österreichischen Komponisten Gottfried von Einem kennen, der sich als Mitglied des Direktoriums der Salzburger Festspiele um deren geistige Neuorientierung bemühte. „Um Brecht an Salzburg zu binden“, so von Einem, „sah einer unserer Pläne vor, dass Berthold Viertel Intendant des Landestheaters werden sollte, Erich Engel Oberspielleiter und Brecht Dramaturg. Brecht war damit sehr einverstanden und machte gleich einige Vorschläge. Beispielsweise wollte er bei den Festspielen nicht nur den Kaukasischen Kreidekreis, sondern auch den Faust inszenieren. Und zwar beide Teile an einem Abend. Den Faust sollte Fritz Kortner und den Mephisto Peter Lorre spielen.“

Aber solche Pläne waren undurchführbar, solange Brecht keine brauchbaren Papiere hatte. Von Einem versprach Brecht, sich in Salzburg und Wien bei einflussreichen Personen dafür einzusetzen, dass er Papiere zum Reisen bekäme, von einem Pass war damals noch nicht die Rede. Als Brecht im Oktober 1948 zum ersten Mal nach Salzburg kam, führte er sogleich Gespräche über mögliche Aufführungen seiner Stücke in Salzburg und Wien. 

Während eines Aufenthalts in Zürich im Frühjahr 1949, wo ihm die Schweizer Behörden neuerlich Probleme machten, hatte Brecht erstmals die Idee, sich um einen österreichischen Pass zu bemühen. Er bot Gottfried von Einem an, für Salzburg ein Festspiel zu schreiben, wenn er dafür einen Pass bekäme. Brecht: „Ich weiß jetzt auch ein Äquivalent, mehr für mich wert als Vorschuss irgendwelcher Art; das wäre ein Asyl, also ein Paß.“ 

Gottfried von Einem war mit dem Handel sofort einverstanden und ebnete Brecht bei den zuständigen Behörden in Salzburg und Wien den Weg. In der Zwischenzeit hatte Brecht mit seiner Arbeit am „Salzburger Totentanz“ begonnen, der im Hof des Stifts St. Peter aufgeführt werden sollte.

Was freilich etwas verwundert, ist die Tatsache, dass Brecht offenbar nicht realisiert hatte, dass sich die Salzburger Festspiele in der Zwischenzeit künstlerisch längst in eine andere Richtung entwickelt hatten. Dirigenten wie Wilhelm Furtwängler, Karl Böhm, Clemens Krauss oder Hans Knappertsbusch, die während der Nazizeit in Salzburg eine führende Rolle spielten, waren längst wieder rehabilitiert worden, und mit Herbert von Karajan hatte im Sommer 1948 ein Dirigent die Salzburger Bühne betreten, der die Festspiele vierzig Jahre lang entscheidend prägen sollte. Und Karajan war, wie Krauss oder Böhm, bekanntlich überzeugter Anhänger des Nationalsozialismus gewesen. 

Nichtsdestotrotz kam Brecht immer wieder nach Salzburg, wo er bei Gottfried von Einem am Mönchsberg 17 wohnte. Für Brecht war die Lage aber immer noch kompliziert, da er als Staatenloser nach wie vor nur über provisorische Dokumente verfügte. Während Brecht also am „Salzburger Totentanz“ arbeitete, beschäftigten sich die zuständigen Behörden in Wien und Salzburg mit der „Akte Brecht“ und kamen einhellig zum Schluss, dass „die Verleihung der Staatsbürgerschaft an Bertolt Brecht ein Gewinn für das kulturelle Leben Österreichs“ wäre. Am 12. April 1950 war es schließlich soweit und Brecht und seine Frau, Helene Weigel, erhielten von der Salzburger Landesregierung die österreichische Staatsbürgerschaft.  

Als eineinhalb Jahre später diese Verleihung in der Blütezeit des Kalten Krieges publik wurde, wollte natürlich keine der damit befassten Stellen irgendetwas damit zu tun gehabt haben. Der Magistrat Salzburg berief sich auf „die künstlerische Würdigung Bert Brechts im Großen Brockhaus“, das Unterrichtsministerium redete sich auf „das unaufhörliche Drängen“ der Salzburger Landesregierung aus, und Bundeskanzler Figl begründete die Zustimmung des Ministerrats damit, dass keine Behörde „Bedenken irgendwelcher Art“ geäußert hätte. 

Brenzlig wurde die Sache allerdings für Josef Klaus, der seit 1. Dezember 1949 Salzburger Landeshauptmann war und als politisch Hauptverantwortlicher in dieser Angelegenheit ins Schussfeld der Kritik geriet. Dieser zog sich aus der Affäre, indem er Gottfried von Einem zum Alleinverantwortlichen machte, der wegen seines Einsatzes für Brecht bereits am 31. Oktober 1951 aus dem Direktorium der Festspiele entfernt worden war.  

Als Wiedergutmachung wurde Gottfried von Einem nach dem Tod Wilhelm Furtwänglers  1954 Präsident des Kunstrates der Festspiele. In dieser Funktion kam es zwischen von Einem und Josef Klaus ein Jahr später zu einer weiteren Auseinandersetzung, in deren Verlauf sich der Landeshauptmann vehement „gegen die Verjudung der Festspiele“ aussprach. Der Grund: Gottfried von Einem hatte das Juilliard-Quartett nach Salzburg eingeladen, woraufhin sich Josef Klaus darüber beklagte, dass die Einladung nur erfolgt sei, weil es sich bei den vier Herren um Juden handelte. Gottfried von Einem antwortete, dass es sich beim Juilliard-Quartett um eines der besten Quartette der Welt handle. Darauf Josef Klaus: „Trotzdem, die Verjudung der Festspiele, die gibt‘s bei mir nicht.“ Von 1964 bis 1970 war Josef Klaus dann Bundeskanzler der Republik Österreich und trat im Wahlkampf 1970 als „echter Österreicher“ gegen Bruno Kreisky an, der als Emigrant und Jude dieses Attribut wohl nicht verdiente.

Mit dem Rausschmiss von Einems aus dem Festspieldirektorium galt der „größte Kulturskandal der Zweiten Republik“ nach außen hin zwar als beendet, für das österreichische Theater sollte er aber noch fatale Auswirkungen haben, bildete er doch den Auftakt zu einem tatsächlichen Skandal, nämlich den Brecht-Boykott in Österreich. 

Zwischen 1950 und 1963 wagte es kaum ein österreichisches Theater, ein Stück von Brecht auf den Spielplan zu setzen. Und versuchte es eine Bühne trotzdem, wurden sofort alle Hebel in Bewegung gesetzt, diese Aufführung zu verhindern.

1961 bekannte Friedrich Torberg ganz offen: „Ich habe als Theaterkritiker, als Herausgeber einer kulturpolitischen Zeitschrift und auf jeder anderen mir zugänglichen Plattform nach besten Kräften darauf hingewirkt, daß Brecht in Wien nicht gespielt wird. Ich bin dafür mitverantwortlich, oder, wie einige von Ihnen es vielleicht lieber formuliert hören würden: Ich bin daran mitschuldig.“

Mit der von Torberg erwähnten kulturpolitischen Zeitschrift war das FORVM gemeint, das jahrelang von der CIA finanziell unterstützt wurde

Eine besonders üble Rolle im Zusammenhang mit dem Brecht-Boykott spielte der Journalist Günter Nenning, der Ende der fünfziger Jahre zu Friedrich Torbergs Zeitschrift gestoßen war und sich sofort in die Brecht-Diskussion einschaltete. 1958 schrieb Nenning: „Daß Brecht in Österreich nicht gespielt werden soll ist ein Standpunkt, der eingehende Diskussion verdient: Diskussion unter uns – das heißt unter den rabiaten Antikommunisten und rabiaten Demokraten. Die Teilnahme von Kommunisten ist unerwünscht. Die Kommunisten mögen schweigen. Sie haben von der Demokratie keinerlei Freiheiten zu fordern, nicht einmal die ihrer nackten politischen Existenz – welche ihnen die Demokratie aus Prinzip und Nützlichkeit dennoch gewährt.“

Nennings Position unterschied sich von der primitiven Anti-Brecht-Linie eines Friedrich Torberg oder Hans Weigel insofern, als er durchaus für die Aufführung von Brecht-Stücken war, allerdings nur, wenn es der Regie gelänge, „die antikommunistische Moral herauszuholen.“

Wenige Jahre später hielt sich Burgtheaterdirektor Ernst Haeusserman an dieses Konzept, indem er vor der Aufführung von Brechts „Galilei“ das Anti-Brecht-Stück „Die Plebejer proben den Aufstand“ von Günter Grass auf den Spielplan setzte. Nachdem sich das Publikum also davon überzeugen konnte, welches Schwein Brecht in Wirklichkeit war, durfte es sich an Curd Jürgens‘ garantiert kulinarischer Darstellung des Galilei erfreuen.

Damit endete der Brecht-Boykott in typisch österreichischer Manier mit einem faulen Kompromiss und es sollte noch Jahre dauern, ehe es hierzulande zu einer ernsthaften Auseinandersetzung mit den Stücken Bertolt Brechts kam.

„Der Standard“ (Album), 25./26. April 2020

Land ohne Kultur

„Kultur soll schrittweise wieder anlaufen“, verkündeten kürzlich Kultur-Staatssekretärin Ulrike Lunacek und Vizekanzler Werner Kogler. In seiner Funktion als Sportminister hätte ich mir von Kogler eigentlich erwartet, dass er uns zeigt, wie das „schrittweise Laufen“ in der Praxis funktioniert. Handelt es sich dabei um eine neue olympische Disziplin (ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück) oder bloß um die typisch österreichische Umschreibung eines Zustands, von dem man nur weiß, dass er für die Kulturschaffenden langsam aber sicher unerträglich wird?
Skurril mutete auch Lunaceks und Koglers Vorschlag an, bald wieder Theaterproben unter Einhaltung des Mindestabstands und mit Mund-Nasen-Schutz-Pflicht zu ermöglichen. Auch an diesem Beispiel sieht man, dass der Weg vom Vermummungsverbot zum Vermummungszwang oft kürzer ist, als man denkt.
Österreich rühmt sich ja bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit, ein Kulturland zu sein. Jetzt befinden wir uns insofern im Dilemma, als wir zwar ein Land haben, aber keine Kultur. Okay, ein paar KünstlerInnen sind in den virtuellen Raum ausgewandert, wo es auf Dauer aber auch langweilig wird, weil es dort nicht so einfach ist, Geld zu verdienen. Und wie sagte schon Bertolt Brecht: „Kunst kostet Geld und Geld ist teuer.“
Als Marxist wusste Brecht aber auch, dass es Bereiche gibt, in denen Geld gar nicht teuer ist. Nehmen wir als Beispiel die ÖBB und die Westbahn: Die bekommen vom österreichischen Staat ruck zuck 48,3 Millionen Euro nur dafür geschenkt, dass ihre Züge weiterhin zwischen Wien und Salzburg verkehren. Die AUA wiederum hätte gerne 800 Millionen, und wird sie auch bekommen, wobei man da noch ein bisschen tricksen muss, weil es ja blöd ausschaut, wenn Österreich die deutsche Lufthansa finanziert.
Bei den Kulturschaffenden gibt man es naturgemäß billiger. Da jubelt man schon, wenn der Covid-19-Fonds beim Künstler-Sozialversicherungsfonds (KSVF) auf fünf Million Euro aufgestockt wird. Wer jetzt aber glaubt, dass das so super ist, wie Frau Lunacek behauptet, der sollte sich einmal die realen Zahlen ansehen, die der KSVF auf seiner Homepage veröffentlicht hat. Da kann man mit Stand 19. April lesen, dass von 2.559 Anträgen bis dato 821 (das sind 31 %) positiv erledigt wurden, und 598.000 Euro ausbezahlt wurden. Im Klartext heißt das, dass jede/r AntragstellerIn als einmalige Hilfeleistung im Durchschnitt 728 Euro erhalten hat. Eine Zahl, ein Skandal.
Stolz verkündet der KSVF auch, dass bereits 77 KünstlerInnen eine Dankesmail an den Fonds geschickt haben. Genau das ist es, was hierzulande von KünstlerInnen erwartet wird: Dass sie sich schön brav bedanken, wenn sie ein paar Almosen bekommen. Fehlt nur noch, dass die Kulturschaffenden jeden Tag um 18 Uhr ihre Fenster öffnen und ein Loblied auf den KSVF anstimmen sollen.
Der shut down im Kulturbetrieb dauert für viele KünstlerInnen von Mitte März bis Mitte September (wenn alles gut geht), das sind sechs Monate ohne die Möglichkeit, in seinem Beruf Geld zu verdienen. KünstlerInnen brauchen Präsentationsräume, Institutionen und die entsprechende Infrastruktur und KünstlerInnen brauchen Publikum. Wenn das alles für sechs Monate oder länger wegbricht, sieht es für die Kultur in diesem Land finster aus.
Aufgabe der Politik wäre es, und da ist auch Frau Lunacek in die Pflicht zu nehmen, für eine massive Aufstockung der diversen Hilfsfonds für Kulturschaffende- und vermittler zu sorgen und zu gewährleisten, dass diese Hilfen tatsächlich „unbürokratisch und serviceorientiert“ ausbezahlt werden. Die Regierung hat uns mit ihren Maßnahmen in dieses Dilemma hineinmanövriert, jetzt soll sie gefälligst schauen, wie wir da wieder herauskommen.
Es ist absolut nicht einzusehen, dass in die Wirtschaft Milliarden gepumpt werden, die Kulturschaffenden aber mit Almosen abgespeist werden. Andererseits: Was soll man von einer Regierung erwarten, deren Kulturverständnis bei „I am from Austria“ endet? Ein Wunder, dass in Tirol die Polizei nicht das Ambros-Lied „Schifoan“ gespielt hat: „Ob’m auf der Hütt’n kauf‘ I ma an Jagatee“. Die Tiroler Seilbahnwirtschaft hätte dieses Unterfangen sicher großzügig unterstützt.
Politisch ist das alles eine Katastrophe, aber besonders schlimm ist, dass die Grünen auch noch stolz darauf sind, bei diesem Trauerspiel mitwirken zu dürfen, wenn auch nur als StatistInnen.

Der Standard, Kommentar der anderen, 21. April 2020

Politisch ist das alles eine Katastrophe

Interview: Bernhard Flieher/Salzburger Nachrichten

Es ist alles sehr unsicher im Moment, alle ändert sich dauernd. Wie gut können Sie mit Ungewissheiten leben?

Palm: Mit Ungewissheiten kann ich sehr gut leben. Sonst wäre ich ja nicht freier Autor und Regisseur geworden, sondern Gemeindesekretär in Timelkam. Ungewissheiten interessieren mich jedenfalls mehr als Gewissheiten. Und dass sich Dinge ändern, finde ich grundsätzlich gut, weil: Veränderung bedeutet Leben, Stillstand bedeutet Tod. 

 

Woran arbeiten Sie im Moment?

Ich schreibe zur Zeit an einem Roman mit dem Titel „Böses Erwachen“, der aber nichts mit dem Corona-Virus zu tun hat. Außerdem arbeite ich an einem Theaterstück, das den Titel „Glücklich ist, wer vergisst“ trägt. Beide Projekte sollen nächstes Jahr abgeschlossen sein, vorausgesetzt, dass es dann überhaupt noch Verlage oder Theater gibt. In meinem letzten Roman „Monster“, in dem ja ein Virus die Menschheit bedroht und sich ein riesiger Asteroid der Erde nähert, habe ich mögliche Szenarien für die Zeit danach übrigens bereits durchgespielt. Und die Prognosen sind nicht besonders gut.

 

Wie sehr fühlen Sie sich denn im Moment gefangen? Wie sieht Ihr Tag aus?

Ich fühle mich überhaupt nicht gefangen, weil ich zu den Privilegierten gehöre. Die Situation ist für mich – im Gegensatz zu vielen anderen Kulturschaffenden – noch nicht existenzbedrohend. Ich muss auch keine Kinder zu Hause unterrichten oder jemanden pflegen. Außerdem habe ich genug Platz. Schlimm ist die Lage für Menschen, die ihre Arbeit verloren haben, oder die als Familie auf fünfzig Quadratmetern wohnen müssen. 

 

Aber sind von der Corona-Pandemie nicht alle gleich betroffen?

Ich glaube, dass durch das Corona-Virus die Klassenunterschiede weiter zementiert bzw. sogar noch verschärft werden. Die Verlierer sind die Armen, allein erziehende Frauen, generell die Lohnabhängigen und sicher auch viele Kulturschaffende, die keine Lobby haben. Also ist das Corona-Virus sozial nicht neutral. 

Dass es sich beim Corona-Virus um „das Ebola der Reichen handelt“, wie ein italienischer Arzt meinte, bezweifle ich ebenfalls. Ein Blick in die USA, nach Indien oder Afrika zeigt ja, wer unter diesem Virus am meisten zu leiden hat, nämlich die Ärmsten der Armen. Und da rede ich noch gar nicht von den 70 Millionen Menschen, die sich weltweit auf der Flucht befinden, und die niemanden interessieren. Wenn die Menschheit nicht ausgerottet wird, wird am Ende des Tages jedenfalls der Kapitalismus als großer Sieger aus dieser Krise hervorgehen und die Reichen werden noch reicher werden. 

 

Was sollten wir also lernen in dieser Krise?

Brecht hat einmal geschrieben: „Das Gedächtnis der Menschheit für erduldete Leiden ist erstaunlich kurz. Ihre Vorstellungsgabe für kommende Leiden ist fast noch geringer.“

Natürlich stelle auch ich mir die Frage, ob der Mensch lernfähig ist, was ich stark bezweifle. Und dass die Krise eine Chance ist, glaube ich auch nicht. Der Mensch vergisst sehr schnell und versucht alles, was ihn bedrohen könnte, zu verdrängen.

Ich frage mich auch, warum alle nur über die Symptome dieser Krise reden, und niemand über deren Ursachen.

 

Wo liegen diese Ursachen Ihrer Meinung nach?

Wenn das Virus tatsächlich seinen Ausgang auf einem Wildtiermarkt in Wuhan genommen hat, dann müssten wir doch endlich auch darüber nachdenken, wie wir in Zukunft mit Tieren umgehen sollen. Schweinepest, Vogelgrippe, Rinderwahn, Ebola, Sars – und jetzt Corona. Was muss noch alles passieren, bis hier ein Umdenken einsetzt? Oder wer spricht über die Arbeitsbedingungen der 50.000 chinesischen Arbeiterinnen und Arbeiter, die in der italienischen Stadt Prato unter oft sklavenähnlichen Zuständen Billigklamotten herstellen, und die wahrscheinlich mitverantwortlich für die rasante Ausbreitung des Virus in Norditalien waren? Aber solange unsere Handys funktionieren, es billiges Fastfood gibt und wir günstig Kleider einkaufen können, ist ja alles in bester Ordnung.

 

Wie beurteilen Sie die Lage politisch? Sind die Maßnahmen gerechtfertigt? 

Politisch ist das alles eine Katastrophe, weil die Corona-Krise den Rechten als Vorwand dient, die Demokratie weiter auszuhöhlen und autoritäre Strukturen zu zementieren. Bestes Beispiel dafür sind Ungarn und Polen, wo vor den Augen der in Schockstarre verfallenen EU-Institutionen Corona-Diktaturen errichtet werden. Wer jetzt die EU immer noch gut findet, dem ist wirklich nicht mehr zu helfen.

Und was Österreich betrifft, glaube ich, dass hier ein viel gefährlicheres Virus grassiert, als das Corona-Virus, nämlich das Virus des Fremdenhasses und des Rassismus. 

 

Aber es scheint doch, dass die Maßnahmen Wirkung zeigen.

Was die einzelnen Maßnahmen betrifft, finde ich es ja geradezu grotesk, dass dieselben Politiker, die vor zweieinhalb Jahren noch ein Vermummungsverbot beschlossen haben, heute  den Vermummungszwang verordnen. Ein weiterer Beweis dafür, dass Österreich eine Operettenrepublik ist. Das Corona-Virus kam gerade recht, um einmal zu testen, wie weit der Staat gehen kann, ohne dass es in der Bevölkerung zu Protesten kommt. Besonders absurd an der gegenwärtigen Situation ist ja auch, dass es zur Durchsetzung gewisser Ziele nicht einmal der allseits herbeiphantasierten „Flüchtlingskrise“, samt „Grenzsturms“, bedurfte, sondern bloß eines Virus‘, das aufgrund seiner Beschaffenheit – man sieht es nicht, man riecht es nicht, man hört es nicht – die ideale Projektionsfläche für alle möglichen Angst- und Zerrbilder bietet. Die Forderung bestimmter Gruppen nach Schließung der Grenzen konnte so problemlos in die Praxis umgesetzt werden, auch wenn sich dadurch das Virus nicht abhalten lässt, aber wenigstens bleiben die Flüchtlinge und „die Fremden“ draußen. 

 

Wie wird die Welt aussehen nach dieser Zeit? Was erhoffen Sie sich?

Nachdem ich immer schon der Meinung war, dass der Mensch ein Fehler der Natur ist, würde es mich sehr wundern, wenn die Menschheit aus der Corona-Pandemie positive Schlussfolgerungen ziehen würde. Ich befürchte, dass nach einer kurzen Schockstarre alles so weitergeht wie bisher. Vielleicht wird es sogar noch schlimmer.

„Salzburger Nachrichten“, 11. April 2020

Der autoritäre Staat schlägt zu

Endlich hat Sebastian Kurz sein Ziel erreicht und kann Österreich so regieren, wie er es sich im Grunde seines Herzens immer gewünscht hat, nämlich als autoritärer Herrscher, der allein entscheidet, was für seine „Untertanen“ gut oder schlecht ist.
Besonders absurd, dass es dazu nicht einmal der allseits herbeiphantasierten „Flüchtlingskrise“, samt „Grenzsturms“, bedurfte, sondern bloß eines Virus‘, das aufgrund seiner Beschaffenheit – man sieht es nicht, man riecht es nicht, man hört es nicht – die ideale Projektionsfläche für alle möglichen Angst- und Zerrbilder bietet, und bei vielen die niedrigsten Instinkte wach gerufen hat.
Ob die von der türkis-grünen Regierung beschlossenen Maßnahmen in Relation zur realen Gefahr des Corona-Virus‘ stehen, könnte man zumindest diskutieren. Aber im Zusammenspiel zwischen Politik und (asozialen) Medien wurde in den letzten Wochen ein Klima der Angst und Hysterie geschaffen, das einen rationale Diskurs fast unmöglich macht. Also schüttet man gleich das Kind mit dem Bade aus. Wozu das führen kann, zeigt das Beispiel Ungarn auf erschreckende Weise, das offen auf eine Diktatur zusteuert. Und alle schauen zu.
Das Corona-Virus kam gerade recht, um einmal zu testen, wie weit der Staat gehen kann, ohne dass es in der Bevölkerung zu Protesten kommt. Österreich, wie es sich zur Zeit präsentiert, ist für Leute wie Kurz jedenfalls der Idealstaat schlechthin: das soziale Leben ist zum Erliegen gekommen; die Universitäten sind geschlossen; kulturelle Veranstaltungen finden nicht mehr statt und Demonstrationen sind verboten. Die Demokratie ist abgeschafft und die Grenzen werden dicht gemacht. Nicht für das Virus natürlich, aber für Flüchtlinge und „die Fremden“.
Während sich nach Bekanntgabe der Regierungsmaßnahmen sofort Vertreter der Industriellenvereinigung zu Wort meldeten und vehement „Stützungsmaßnahmen für die Wirtschaft“ forderten, antwortete Innenminister Karl Nehammer auf die Frage, wie Kulturschaffende entschädigt werden sollen, „es sei ein Straftatbestand, nicht daran mitzuwirken, dass sich die Epidemie nicht weiter ausbreitet“. Anstatt Vorschläge zu machen, wie man Künstlerinnen und Künstler in dieser Situation unterstützen könnte, wird gedroht. Aber solche Aussagen sind bei einem Minister, dessen Kulturverständnis bei „I am from Austria“ endet, kein Wunder. Tirol hätte die Polizei übrigens mit dem Ambros-Lied „Schifoan“ beschallen können: „Ob’m auf der Hütt’n kauf‘ I ma an Jagatee“. Die Tiroler Wirtschaft hätte dieses Unterfangen sicher großzügig unterstützt.
Was mit den tausenden Kulturschaffenden in Österreich geschieht, die in den nächsten Wochen keine Arbeit und kein Einkommen haben, interessiert die türkis-grüne Regierung höchstens am Rande.
„Es ist mir ein besonderes Anliegen, dass wir Kunst- und Kulturschaffenden möglichst unbürokratisch und serviceorientiert begegnen, um die ohnehin schwierige Situation nicht zusätzlich zu belasten“, erklärt die grüne Staatssekretärin für Kunst und Kultur Ulrike Lunacek auf der Homepage des Ministeriums für Kunst, Kultur etc. und verweist darauf, dass der Unterstützungsfonds beim Künstler-Sozialversicherungsfonds auf fünf Millionen Euro aufgestockt wurde. Bei einer Höchstgrenze von 5.000 Euro pro AntragstellerIn bedeutet das, dass in ganz Österreich maximal 1.000 KünstlerInnen unterstützt werden können. In die Wirtschaft werden Milliarden gepumpt, die Kunstschaffenden speist man aber mit ein paar Millionen ab. 
Besonders traurig: die Grünen sind noch stolz darauf, bei diesem Trauerspiel mitwirken zu dürfen, wenn auch nur als StatistInnen.
26. März 2020

Das Weihnachtsmassaker in der Shopping City Süd

 

Das Weihnachtsmassaker in der Shopping City Süd

1. Meet me at the Steakhouse

„Christoph, das kannst du nicht machen. Das ist eine völlig absurde Aktion, die du da vor hast. Du machst dich damit nur unglücklich.“ Seit einer halben Stunde redete Angelika auf ihren Freund ein, der gerade die Kammer seiner Plastik-MP mit einer roten Flüssigkeit  füllte. 

„Mir reicht es“, sagte Christoph wild entschlossen, und drehte den Verschluss zu. „Diese Idioten können nicht so mit mir umspringen. Das ist ja die reinste Verarschung. Ich lasse mir das nicht mehr gefallen. Geli, kapierst du das nicht? Die wollen mich fertig machen.“ Er zielte mit seiner Plastik-MP auf ein imaginäres Ziel und skandierte dazu stakkatomäßig „peng, peng, peng“.

Angelika hob reflexartig die Hände und begann zu schreien. „Leg diese verdammte Waffe weg. Bist du jetzt vollkommen übergeschnappt?“

„Entschuldige, jetzt werde nicht gleich hysterisch. Du weißt ja, dass die MP aus Plastik ist, aber die Leitner weiß es nicht.“

Mit zitternden Fingern griff Angelika nach ihrer Tasse und nahm einen Schluck kalten Kaffee. Sie spürte, wie sie immer wütender wurde. „Christoph, das ist jetzt nicht mehr lustig. Ich verstehe ja, dass du sauer bist, weil du in der Shopping City Süd als Weihnachtsmann arbeiten musst, aber du solltest endlich begreifen, dass daran nicht die Leitner schuld ist. Außerdem ist heute ohnehin dein letzter Arbeitstag, und …“

Christoph stand auf und sah seine Freundin mit funkelnden Augen an. Mit der schwarzen MP im Anschlag hätte er gut als Statist in einem drittklassigen Actionfilm mitspielen können. „Ach so, ich verstehe, jetzt fällst du mir auch noch in den Rücken. Dass du diese frustrierte Spinatwachtel verteidigst, ist ja ein ziemlich starkes Stück.“

Angelika verdrehte die Augen. „Ich verteidige sie doch gar nicht. Ich sage nur, dass sie nicht schuld ist an deiner Situation. Du hast doch selbst gesagt, dass auch die anderen Mitglieder der Auswahlkommission von deinem Drehbuch nicht besonders begeistert waren.“

„Moment, Moment“, antwortete Christoph gereizt und legte seine Waffe zur Seite. „Einige Mitglieder der Filmkommission fanden das Drehbuch sehr wohl originell. Nur die Leitner war von Anfang an dagegen und hat entsprechend Stimmung gegen mich gemacht. Wie sie bei der entscheidenden Sitzung das Wort ergriffen hat, war mir sofort klar, dass sie meinen Film nie und nimmer fördern wird. ‚Einen Film über ein  Weihnachtsmassaker in der Shopping City Süd schaut sich doch kein Mensch an, Herr Reiter‘, hat sie gesagt, und dabei süffisant gegrinst. Damit war die Sache erledigt. Die anderen Mitglieder haben sich natürlich nicht getraut, gegen die Leitner zu stimmen. Das sind ja alles feige Säue. Und die Leitner ist eine frustrierte alte Schnepfe, die …“

„Christoph, bitte spare dir diese primitiven frauenfeindlichen Kommentare.“ Während Angelika das Frühstücksgeschirr in die Spülmaschine räumte, meldete Christophs Handy den Eingang einer Kurznachricht. 

„Das darf ja nicht wahr sein. Diese Idioten wollen heute um 18 Uhr in der Shopping City eine Feier für alle Weihnachtsmänner veranstalten. Die können mich am Arsch lecken, ich bin froh, wenn ich mit diesem Gesindel nichts mehr zu tun habe.“ Christoph griff nach seiner schwarzen Plastik-MP und verstaute sie in einem großen Rucksack. 

Angelika warf ihrem Freund einen flehenden Blick zu. „Christoph, bitte, überlege es dir noch einmal. Die Geschichte kann echt blöd ausgehen.“ Sie sah auf ihre Armbanduhr. „Halb acht. Ich muss in einer Stunde im Museumsquartier sein. Dort findet das Foto-Shooting für dieses Zombie-Theater-Projekt bei den nächsten Wiener Festwochen statt.“

„Treten dort die alten Wiener Theater-Deppen als Zombies auf?“, fragte Christoph und verrenkte seinen Körper wie ein Film-Zombie.

„Christoph, hör endlich auf, alle anderen herunterzumachen. Schön langsam geht mir deine überhebliche Art auf die Nerven.“

„Ist ja wahr“, antwortete Christoph eingeschnappt, „jedes Schwachsinns-Projekt in dieser Stadt wird gefördert, nur für meinen Film gibt es kein Geld. Aber anscheinend ist dir das egal. Hauptsache, du kannst irgendwelche Idioten fotografieren, und wirst dafür auch noch gut bezahlt.“

Angelika atmete tief durch und bemühte sich, ruhig zu bleiben. „Ich habe jetzt keine Lust, mit dir zu streiten. Morgen ist Weihnachten und ich möchte dann einfach ein paar ruhige Tage verbringen. Und zwar mit dir.“

Christoph kratzte sich nervös am Kinn. „Ich verstehe dich ja. Aber du musst mich auch verstehen, Geli. Ich kann das nicht auf mir sitzen lassen. Wenn du die Aktion filmen würdest, wäre das das schönste Weihnachtsgeschenk für mich. Und die Sache wäre damit erledigt. Ich könnte mich dann endlich einem neuen Filmprojekt widmen.“

Angelika dachte kurz nach. „Also, theoretisch …“ Sie zögerte einen Augenblick. „Also, theoretisch könnte ich zu Mittag in der Shopping City sein. Aber ich komme nur, wenn du mir versprichst, dass du dich mit der MP lediglich vor den Eingang des Steakhouses stellst und mit der Waffe posierst. Dann mache ich ein Foto, und fertig. Das wird jeder als Spaß verstehen.“

Christoph schüttelte energisch den Kopf. „Vergiss es. Ich ziehe die Aktion durch, wie geplant.“

„Dass dich die Leitner anzeigen wird, ist dir aber auch klar?“

„Das glaube ich nicht. Bis die kapiert, was da passiert ist, verteile ich als einer von 73 Weihnachtsmännern längst schon wieder irgendwo Zuckerl an die braven Kinder. Außerdem werden heute mindestens 80.000 Leute in die Shopping City erwartet. Was glaubst du, was da für ein Chaos herrschen wird. Das ist das ideale Setting für mein Shooting.“ Christoph betonte das letzte Wort und hoffte, dass Angelika das Wortspiel verstand.

„Und was ist, wenn die Leitner gar nicht in dieses Steakhouse kommt?“

„Die kommt sicher. Da kannst du Gift drauf nehmen. Das mit dem Weihnachtsempfang  im Steakhouse steht ja sogar auf der Homepage des Filmfonds’. Wenn es etwas gratis zum Fressen gibt, sind Leute wie die Leitner die ersten, die die Buffets stürmen. Ja, und plötzlich wird halt ein freundlicher Weihnachtsmann mit Rauschebart das Steakhouse betreten, unter seiner roten Robe eine MP hervorholen und die Frau Leitner ein bisschen mit Filmblut bespritzen. Peng, peng, peng.“ Christoph rieb sich schadenfroh die Hände.

„Und du glaubst, dass dich beim Verlassen des Steakhouses niemand attackieren wird?“

„Entschuldige, wer soll mich attackieren? Ich gehe vorne bei der Tür hinein, mache ‚peng, peng, peng‘ und gehe schnurstracks hinten wieder hinaus. Zwei Minuten später bin ich wieder im McDonald‘s-Laden und verteile dort an die fetten Kinder irgendwelchen Ramsch. Dass ich kurz weg bin, wird niemandem auffallen, weil mich heute bei McDonald‘s ein zweiter Weihnachtsmann unterstützen wird. Das ist übrigens ein skurriler Typ. Er heißt Ignaz, hat ungefähr 150 Kilo und redet nur von seiner armen Mama, die vor ein paar Monaten gestorben ist.“ 

„Wer soll die ganze Aktion eigentlich filmen, wenn ich es nicht mache?“ Angelika  verstaute ihre Fotokamera und einige Objektive in ihrer Fototasche.

„Dann nehme ich die Kamera einfach in die linke Hand und filme das mit“, antwortete Christoph triumphierend. „Keine Angst, das schaffe ich schon. Ich bin ja schließlich als Weihnachtsmann verkleidet und kann mit einer Kamera auftreten, ohne dass sich jemand dabei etwas denkt. Was glaubst du, wie oft ich in den letzten vier Wochen mit grenzdebilen Kindern fotografiert und gefilmt worden bin? Und immer musste ich mit verstellter Stimme fragen, ob diese Rotzlöffel eh brav waren und ihren Eltern gefolgt haben. Auf derart schwachsinnige Weise habe ich noch nie mein Geld verdient wie in dieser verfickten Shopping City Süd.“

Angelika hatte das Gefühl, dass Christoph rationalen Argumenten nicht mehr zugänglich war. Sie überlegte, ob sie diese Leitner einfach anrufen sollte, um sie zu warnen, verwarf den Gedanken aber wieder. Sie folgte Christoph ins Vorzimmer, wo sich beide ihre Winterjacken anzogen.

„Also, Christoph, wir treffen uns um Punkt zwölf vor dem Eingang zum Steakhouse. Du weißt ja, dass ich dich da nicht alleine lassen kann.“

„Du bist ein Schatz“, sagte Christoph grinsend und gab seiner Freundin einen Kuss. 

2. No Happy Meal today

Wenn sie diesen Brief finden bin ich warscheinlich schon tot. Dann bin ich schon bei meiner Mama im Himmel. Ich muss meine Mama rechen. Den das meine Mama gestorben ist daran ist McDonald‘s schuld. Und zwar der McDonald‘s in der Shopping City Süd wo meine Mama mehr als zwanzig Jahre lang gearbeitet hat. Und weil sie am Schluß schon so dick war das sie nicht mehr arbeiten hat können haben sie sie einfach hinausgeschmissen. Diese Schweine. Meine liebe Mama ist an Herzverfettung gestorben. Sie hat kurz vor ihrem Tod mindestens 150 Kilo gewogen. Die Ärzte haben gesagt das sie von den Hamburgern dem Coca Cola den Milk Shakes und den anderen Sachen von McDonald‘s so dick geworden ist. Ich kenne ja auch nichts anderes. Ich bin als Baby schon mit Hamburgern und Cola gefüttert worden. Darum habe ich auch schon eine Fettleber und ein fettes Herz. Ich bin ja auch schon fast so schwer wie meine Mama am Schluß war. Darum wollten sie mich ja eigentlich auch nicht als Weihnachtsmann einstellen. Aber nachdem sie so wenig zahlen und sie keine Leute bekommen haben haben sie mich doch noch genommen. Das ist der Grund das ich heute mittag als Weihnachtsmann bei McDonald‘s sein kann wenn der Geschäftsführer und die anderen hohen Herren von McDonald‘s auch da sein werden. Ist ja groß angekündigt ihre Weihnachtsfeier. Ich werde dann auch da sein mit meiner Maschinenpistole und diese Herren einfach erschießen. Als Weihnachtsmann falle ich da ja nicht auf. Ich habe alles genau vorbereitet. Ich kann ohne meine Mama nicht mehr leben. Wir waren immer zusammen. Wir haben zusammen gewohnt meine Mama und ich. Und jetzt ist sie tot meine liebe Mama und schuld ist McDonald‘s und ich habe meiner armen Mama versprochen das ich sie rechen werde. Ich habe gelesen das schon 2 mal Leute in McDonald‘s Restaurants erschossen worden sind. Einmal in Tasmanien und einmal in San Diego. In Tasmanien sind 35 Leute erschossen worden und in San Diego 21. Ich weiß nicht wie viele ich erschießen werde aber die paar hohe Herren erschieße ich auf jeden Fall. Ich kann nicht anders. Sie haben meine Mama umgebracht und jetzt bringe ich sie um. Ich finde das nur gerecht. Ich hoffe das ich auch erschossen werde damit ich dann bei meiner lieben Mama im Himmel sein kann.

3. Three brothers from Albania

Im verrauchten Kellerlokal „Beograd“ in der Gaullachergasse in Ottakring wurde bereits um acht Uhr in der Früh Karten gespielt. Aber man spielte auch Würfelpoker, Black Jack, Dart und sogar Mikado. Natürlich wurde um Geld gespielt, und zwar um viel Geld. Lediglich an einem Tisch in der Ecke wurde nicht gespielt. Dort saßen drei albanische Brüder und ein Serbe, die etwas miteinander besprachen. Genau genommen sprach nur der Serbe, weil die drei albanischen Brüder nichts zu sagen hatten. Sie sahen den Serben nur mit ausdruckslosen Gesichtern an, weshalb der Serbe nach jedem Satz fragte, ob sie überhaupt verstünden, worum es ginge. Die albanischen Brüder nickten jedes Mal kurz, um dann mit noch ausdrucksloseren Gesichtern zuzuhören. 

Der Serbe hieß Predrag Mladenovi, war aber in einschlägigen Kreisen in Ottakring nur unter dem Künstlernamen „Der Pate“ bekannt. Der Pate war nicht nur in der illegalen Wett- und Glücksspielszene tätig, sondern auch im Geldverleihgewerbe aktiv, also in zwei Geschäftszweigen, die einander hervorragend ergänzten. Das war auch der Grund, weshalb die drei albanischen Brüder jetzt mit dem Paten an einem Tisch saßen.

Die Brüder Admir, Afrim und Agmin waren vor einem halben Jahr von einem albanischen Bergdorf, wo es außer Ziegen und Esel nichts gab, nach Wien gekommen, um hier viel Geld zu verdienen. Das hatte ihnen jedenfalls der „Vermittler“, der eines Tages in ihrem Dorf aufgetaucht war, versprochen. Die drei Brüder hatten daraufhin ihre wenigen Habseligkeiten zusammengepackt und waren mit ein paar anderen Landsleuten nach Wien gereist, wo sie gleich einmal vier Monate lang am Brunnenmarkt schuften durften, um die Reisekosten zu begleichen. Wenig später waren sie dann über Vermittlung eines serbischen „Freundes“ im „Beograd“ gelandet, wo sie in der ersten Woche beim Würfelpoker – natürlich „unter Aufsicht“ – 10.000 Euro gewannen. Von diesem Gewinn geblendet, spielten sie so lange, bis sie 10.000 Euro verloren hatten. Da sie wussten, dass sie diese Schulden nie und nimmer zurückzahlen konnten, mussten sie einen anderen Weg aus ihrer misslichen Lage finden. Das war der Grund, weshalb sie jetzt mit dem Paten an einem Tisch saßen.

„Die drei Geldboten sind eingeweiht und werden keinen Widerstand leisten, wenn ihr mit den Maschinenpistolen auftaucht. Um Punkt zwölf wird der Vormittagsumsatz von IKEA von drei Geldboten zu einem Panzerwagen gebracht. Versteht ihr?“

Die drei albanischen Brüder nickten.

„Ihr seid ja als Weihnachtsmänner verkleidet, weshalb kein Mensch Verdacht schöpfen wird. Es arbeiten insgesamt 73 Weihnachtsmänner in der Shopping City Süd, also werdet ihr nicht weiter auffallen. Obradin wird im Fluchtauto sitzen. Sobald ihr den Geldboten die Säcke mit dem Papiergeld abgenommen habt, läuft ihr zum Fluchtauto, gebt das Geld Obradin und mischt euch dann wieder unter die Leute vor dem IKEA. Ist das klar?“

Die drei albanischen Brüder nickten.

„Damit sind eure Schulden beglichen und ihr könnt wieder ein neues Leben beginnen.“

Dem Paten blutete ein wenig das Herz, wenn er daran dachte, dass die drei Brüder in wenigen Stunden tot sein würden, aber er konnte das Risiko, die Albaner am Leben zu lassen, nicht eingehen. Man würde sie garantiert erwischen und dann würden sie ihn verpfeifen und er würde wieder für einige Zeit in Belgrad untertauchen müssen, worauf er absolut keine Lust hatte. Hier in Ottakring war er der König, und so sollte es auch bleiben.

4. High Noon

Am letzten Einkaufssamstag vor Weihnachten war in der Shopping City Süd die Hölle los. Bereits zu Mittag waren alle 10.000 Parkplätze besetzt, und die 4.500 Beschäftigten in den 330 Geschäften hatten nicht einmal mehr Zeit zum Klogehen, weil sie von Käuferhorden überrannt wurden. Auch die 73 Weihnachtsmänner wussten nicht mehr, wo ihnen der Kopf stand, weil immer mehr Kinder auf sie einstürmten und sie Angst haben mussten, von den hysterischen Massen erdrückt zu werden. 

In diesem Chaos fiel es also nicht weiter auf, dass sich kurz vor zwölf fünf Weihnachtsmänner in die gleiche Richtung bewegten. Christoph gab seiner Freundin Angelika vor dem Steakhouse ein verstecktes Zeichen, der dicke Ignaz betrat den daneben liegenden McDonald‘s-Laden, und die drei albanischen Brüder begaben sich zu einem Seiteneingang des angrenzenden IKEA-Gebäudes.

Um Punkt zwölf Uhr öffnete sich dort eine Tür und drei Geldboten näherten sich ihrem gepanzerten Fahrzeug, das in der Nähe geparkt war. Als die Geldboten auf das Eingreifen der drei Weihnachtsmänner warteten und Obradin in seinem BMW seine MP zückte, zogen die drei Albaner ihre Waffen und erschossen nicht nur die Geldboten, sondern auch Obradin, der tot war, noch ehe er mitbekam, was soeben geschehen war. Die drei albanischen Brüder schulterten die Geldsäcke und marschierten seelenruhig zu einem Fluchtauto, das von Envar, ihrem Vater, gelenkt wurde.

In dem Augenblick, in dem die Albaner ihre Schüsse abgaben, begann im McDonald‘s-Laden der dicke Ignaz wie wild um sich zu ballern. Da er kein besonders guter Schütze war, erschoss er nicht nur einige führende Herren von McDonald‘s, sondern auch ein paar Kunden, denen ihre ketchupverschmierten Münder vor Schreck offen standen. Nachdem er gesehen hatte, dass die für den Tod seiner Mutter Verantwortlichen tot waren, verließ er das Restaurant und wusste nicht, was er tun sollte.

Zur gleichen Zeit zielte im Steakhouse Christoph mit seiner Spielzeug-MP auf Dietlinde Leitner, die  gerade nach einem Brötchen griff, und bespritzte sie mit künstlichem Blut. Da Leitner nicht wissen konnte, dass die MP nicht echt war, griff sie sich an die Brust und schrie: „Hilfe, ich bin getroffen worden.“ Während Angelika die Aktion filmte und Christoph mit ihr nach draußen rannte, spielten sich vor dem Steakhouse, dem McDonald‘s-Restaurant und dem IKEA-Gebäude chaotische Szenen ab. Wachleute schossen wahllos auf Weihnachtsmänner, die sich unter die Menschenmassen gemischt hatten, Ignaz schoss ebenso wahllos zurück, und die albanischen Brüder, die im Stau stecken geblieben waren, begannen ebenfalls um sich zu schießen. Christoph warf sich mit Angelika zwischen parkenden Autos zu Boden und riss sich sein Weihnachtsmann-Kostüm samt Rauschebart vom Leib. Dass er sich in die Hosen gemacht hatte, hatte er gar nicht mitbekommen.

Drei Stunden später war das Gelände geräumt und die Sicherheitsbehörden gaben in einer ersten Stellungnahme bekannt, dass während des Weihnachtsmassakers in der Shopping City Süd 49 Menschen getötet und Dutzende verletzt worden waren. 

Die Direktorin des Wiener Filmfonds, Dietlinde Leitner, die mit einem schweren Schock im Krankenhaus lag, erklärte noch am selben Tag, dass man das Weihnachtsmassaker in der Shopping City Süd von einem renommierten Hollywood-Regisseur verfilmen lassen werde. 

Als Christoph diese Nachricht hörte, besorgte er sich einen Arztkittel und stattete Dietlinde Leitner im Krankenhaus einen Besuch ab.

In: „Mords-Bescherung 3“, hrsg. von Jeff Maxian und Erich Weidinger, Emons Verlag, Köln 2018

Tote Teufel beißen nicht

Tote Teufel beißen nicht

Auf Tasmanien gibt es nicht nur viel Wald, sondern auch jede Menge überfahrene Tiere

Von Kurt Palm

Um eines gleich vorwegzunehmen: Ich bin weder Metzger noch Jäger und töte Tiere nur, wenn es unbedingt sein muß. Eine Fliege, zum Beispiel, kann mich stundenlang sekkieren, ehe ich zur Klatsche greife, um ihr damit den Garaus zu machen. Und einer fußkranken Henne schlage ich erst dann mit einer Hacke den Kopf ab, wenn mich die alte Frau Kürzl in Oberranna inständig darum bittet. Daß ein solches Huhn dann nicht gegessen, sondern im Wald entsorgt wird, versteht sich von selbst. Der Fuchs soll ja auch etwas davon haben und Recycling wird in Oberranna seit jeher groß geschrieben.  

Wenn ich mich also in meinen Urlauben auf die Jagd nach toten Tieren begebe, dann hat das nichts mit einer absonderlichen Veranlagung zu tun, sondern damit, daß ich auf diese Weise etwas über die Fauna des jeweiligen Landes und über das Verhältnis seiner Bewohner zu ihrer Tierwelt erfahren möchte.

Ein kleines Beispiel: Wenn in Südafrika ein Strauß von einem LKW überfahren wird – was häufiger vorkommt, als man glaubt –, dauert es keine fünf Minuten und schon tauchen die ersten Schwarzen auf, die das Tier von der Straße zerren. Der naheliegende Grund: Die schwarze Landbevölkerung Südafrikas ist arm und ein Strauß wird als willkommene Ergänzung zum Speiseplan immer gerne angenommen. 

Wenn hingegen in Tasmanien ein Wallaby, das ist ein kleines Känguruh, überfahren wird, liegt es trotz sommerlicher Temperaturen von 30 ° solange auf der Straße, bis es entweder von anderen Tieren aufgefressen wird oder verwest ist. Obwohl Wallaby-Fleisch sehr bekömmlich sein soll, würde ein Tasmanier nie auf die Idee kommen, ein solches Tier mit nach Hause zu nehmen, um es küchenmäßig zu verarbeiten. Den Menschen in Tasmanien geht es – noch – so gut, daß sie es nicht nötig haben, sich von überfahrenen Tieren zu ernähren.  

Aber dieser soziologische Aspekt steht nicht wirklich im Mittelpunkt meines Interesses an überfahrenen Tieren in fernen Ländern. Mich fasziniert dabei vielmehr die Möglichkeit, Tiere in ihrer natürlichen Umgebung aus nächster Nähe betrachten zu können. Wann hat man schon die Möglichkeit, einem Känguruh oder Wombat ins – zugegebenermaßen tote – Auge zu blicken? Außerdem ergeben sich bei längerfristigen Beobachtungen gewisse Zusammenhänge, die Rückschlüsse auf das Verhalten bestimmter Tierarten zulassen. Angewandte Naturkunde sozusagen.

Während meines Urlaubs in Tasmanien ist mir zum Beispiel aufgefallen, daß Possums in den Nächten vor Vollmond regelrecht „durchdrehen“ und massenhaft auf den Straßen herumrennen, wo sie dann natürlich überfahren werden. Auf der 38 Kilometer langen Strecke zwischen Huonville und Hobart habe ich einmal 63 tote Possums und 17 überfahrene Wallabies gezählt! Nicht gezählt habe ich die zahlreichen toten Vögel, die allerdings meist als „innocent bystanders“ ihr Leben lassen müssen, weil sie nicht mehr rechtzeitig vor den herannahenden Fahrzeugen flüchten können, während sie von den Kadavern fressen. 

Interessanter als viel befahrene Straßen sind für den Jäger toter Tiere natürlich abgelegene Landstraßen in Waldgebieten, wo sich Wombat und Possum „Good Night“ sagen und man daher auch die eine oder andere exotische Spezies zu sehen bekommt. Tasmanien ist in dieser Hinsicht eine „Trauminsel“, weil ein großer Teil des Landes aus Wäldern besteht, die teilweise noch nicht einmal erforscht sind. Kein Wunder also, daß in den riesigen Nationalparks immer wieder Wanderer verloren gehen und nie wieder auftauchen. Daß der Tasmanische Tiger hier seine Krallen im Spiel hat, ist allerdings unwahrscheinlich, gilt er doch seit 1936 als ausgestorben. Ganz sicher sind sich die Experten freilich nicht, denn ähnlich wie beim Yeti tauchen immer wieder Augenzeugen auf, die beschwören, dem Tasmanischen Tiger begegnet zu sein. Nicht zu verwechseln ist dieses fleischfressende Beuteltier von der Größe eines Hundes mit dem wesentlich kleineren Tasmanischen Teufel, der seinen Namen der Tatsache verdankt, daß er einen „höllischen“ Lärm macht, wenn er sich bedroht fühlt. Da der Tasmanische Teufel aber ein nachtaktives Tier ist, wird man ihm nur in Ausnahmefällen in freier Wildbahn begegnen. Außer, er überquert gerade eine Straße und wird dabei über den Haufen gefahren.

Ganz anders verhält es sich mit den Possums, jenen niedlichen einstigen Pelzlieferanten, deren massenhaftes Auftreten in Tasmanien auch damit zusammenhängt, daß in Europa ihr Pelz seit geraumer Zeit nicht mehr gefragt ist. Nicht weiter verwunderlich also, daß die Possums, die sich noch dazu gerne in der Nähe menschlicher Siedlungen aufhalten, zu den am häufigsten überfahrenen Tieren auf Tasmaniens Straßen gehören. 

So gesehen erzählen tote Tiere auch etwas über Veränderungen in den komplexen Beziehungen zwischen Natur und Zivilisation. Überfahrene Känguruhs, Possums oder  Echsen sind ja auch ein Zeichen dafür, daß der Mensch immer weiter in jene Räume vordringt, die bisher diesen Tieren vorbehalten waren. In Tasmanien kommt beispielsweise der holzverarbeitenden Industrie eine immer größere Bedeutung zu, was die Rodung riesiger Waldgebiete zur Folge hat. Dadurch werden viele Tiere gezwungen, sich neue Lebensräume zu suchen, wodurch sie wiederum mit den Menschen in Konflikt geraten. Daß an einer solchen Schnittstelle zwischen Natur und Zvilisation die Tiere im wahrsten Sinn des Wortes auf der Strecke bleiben, liegt auf der Hand. Angesichts der Schäden, die Känguruhs, Possums, Wombats und diverse Vogelarten – angeblich – anrichten, wird übrigens bereits darüber diskutiert, einige Tierarten zum Abschuß freizugeben.  

Aber selbstverständlich hat die 67.800 km2 große Insel Tasmanien mehr zu bieten als überfahrene Tiere. Da wären zum Beispiel die siebzehn Nationalparks, in denen es Wanderrouten mit einer Gesamtlänge von mehr als 2.000 Kilometern gibt. Der Großteil dieser Wege führt allerdings durch Gegenden, wo einem oft tagelang kein Mensch begegnet. Das heißt, daß solche Wanderungen penibelst vorbereitet werden müssen, denn wer sich in einem der Nationalparks einmal verlaufen hat, wird nur mit großem Glück wieder in die Zivilisation zurückfinden. Zweimal falsch abgebogen und schon hat man das Gefühl, sich in einer Kulisse für einen Horrorfilm wie „Blair Witch Project“ zu befinden. Da nützt es einem dann auch nichts, daß man bei einer allfälligen Begegnung mit einer Schlange nicht lange überlegen muß, ob es sich dabei um ein giftiges oder nicht giftiges Exemplar handelt, da sämtliche auf Tasmanien vorkommenden Schlangenarten tödlich giftig sind.

Bei aller Begeisterung für die tasmanische Landschaft sollte man aber nicht vergessen, daß man sich hier auf blutgetränkter Erde bewegt. Während die Entdeckung der Insel durch den niederländischen Seefahrer Abel Janszoon Tasman im Jahre 1642 nämlich noch weitgehend ohne Folgen für die Ureinwohner blieb, bedeutete die Ankunft der Engländer das Ende der Aborigines. Nachdem die Briten Anfang des 19. Jahrhunderts begonnen hatten, Tasmanien zu einer Sträflingskolonie auszubauen, starteten sie einen grausamen Vernichtungsfeldzug gegen die Aborigines, die innerhalb weniger Jahrzehnte vollständig ausgerottet wurden. Völkermord würde man heute dazu sagen. Als 1876 mit Truganini die letzte Ureinwohnerin Tasmaniens starb, betrug die Zahl der aus Europa Eingewanderten bzw. aus England Deportierten bereits 110.000, von denen 70.000 Sträflinge waren. Verständlich also, daß die Tasmanier ungern daran erinnert werden, daß die Vorfahren der meisten der 450.000 Einwohner der Insel entweder Sträflinge oder Soldaten waren. Schließlich hat niemand gerne einen Mörder, Bankräuber oder Schweinedieb in seinem Stammbaum.

Die Presse, 2. November 2006

„Eine Waffe in Feindeshand“

„Eine Waffe in Feindeshand“

Von Kurt Palm

 

Knapp drei Wochen, nachdem am 16. September 1948 das „Neue Theater in der Scala“ mit Nestroys „Höllenangst“ eröffnet worden war, brachte diese neu gegründete Wiener Bühne eine Uraufführung heraus, die – zumindest in Österreich – Geschichte schreiben sollte: „Der Bockerer“ von Ulrich Becher und Peter Preses. In der Regie von Günther Haenel spielte der auch vom Film bekannte Fritz Imhoff die Titelrolle. Mit der Wahl dieses Stückes hatte die „Scala“ nicht nur Mut bewiesen, sondern auch ein programmatisches Bekenntnis zum österreichischen Volkstheater in der Tradition Nestroys abgegeben, das einen wesentlichen Teil des Repertoires bis 1956 ausmachte. 

Weitere Eckpfeiler des Spielplans bildeten die großen Komödien der Weltliteratur von Shakespeare über Molière bis Lope de Vega und Shaw sowie die Stücke Maxim Gorkis, Leo Tolstois, Nikolai Gogols und anderer russischer Dramatiker. Nicht vergessen darf auch ein Autor werden, der im kurzen Leben der „Scala“ eine in mehrfacher Hinsicht wichtige Rolle spielte: Bertolt Brecht. Bereits Ende November 1948 stellte das Ensemble der „Scala“, unterstützt von der großen Schauspielerin Therese Giehse, im Rahmen einer Matinee Brecht als „Dichter unserer Zeit“ vor. So unspektakulär das heute klingen mag, so ungewöhnlich war dieses Unternehmen damals, fand es doch zu einer Zeit statt, als in Wien nicht nur die „Scala“, sondern auch Brecht von vielen als Feinde  betrachtet wurden.

Die Idee zur Gründung eines „Volkstheaters neuen Typs“ wurde von österreichischen Emigranten bereits während des Zweiten Weltkriegs in Zürich entwickelt. Am dortigen Schauspielhaus hatten Künstler wie Wolfgang Heinz, Karl Paryla, Emil Stöhr oder Hortense Raky in einem Ensemble gearbeitet, das sein Theaterschaffen bei allen politischen und künstlerischen Unterschieden als eine „Ästhetik des Widerstands“ begriff. Nicht zufällig wurden an diesem Theater zwischen 1941 und 1943 die großen Brecht-Stücke „Mutter Courage und ihre Kinder“, „Der gute Mensch von Sezuan“ und „Leben des Galilei“ zur Uraufführung gebracht.

Unmittelbar nach ihrer Rückkehr nach Wien verfasste eine Gruppe um Karl Paryla eine „Gründungsskizze für ein genossenschaftliches Theater“, dessen Konzept in der damaligen Theaterlandschaft in jeder Hinsicht revolutionär war. Das neue Theater sollte nicht nur kollektiv geführt werden, sondern auch ausdrücklich dem gesellschaftlichen Fortschritt verpflichtet sein und das Publikum durch Gründung einer eigenen Organisation in den Theaterpozess miteinbeziehen. Darüberhinaus war beabsichtigt, „Theater zu Kinopreisen“ anzubieten und dem Publikum durch Aufführungen in Betrieben, Schulen und am Land im wahrsten Sinn des Wortes „entgegenzukommen“. 

Da viele der an der Gründung Beteiligten Mitglieder oder Sympathisanten der Kommunistischen Partei Österreichs waren, lag es nahe, nicht nur mit der KPÖ, sondern auch mit den sowjetischen Besatzungsbehörden zusammenzuarbeiten. Im Sowjetsektor wurde schließlich mit dem ehemaligen „Johann-Strauß-Theater“ in der Favoritenstrasse 8 im 4. Bezirk ein geeignetes Gebäude gefunden. 1945 wurde dieses Haus, das 1931 in das „Scala“-Kino umfunktioniert worden war, von den sowjetischen Behörden als deutsches Eigentum beschlagnahmt und 1948 den Sozietären des „Neuen Theaters in der Scala“ übergeben. Inhaber der Konzession war Wolfgang Heinz, der formal auch als Direktor fungierte. Damit konnte die „Scala“ mit ihren 1.256 Sitzplätzen – das entspricht in etwa der Größe des Burgtheaters – als selbstverwaltetes Schauspielertheater ihren Betrieb aufnehmen.

Nach der erfolgreichen Eröffnungspremiere mit Nestroys „Höllenangst“ und der Uraufführung des „Bockerer“ konnte die „Scala“ am 2. Dezember 1948 mit einer weiteren Sensation aufwarten: An diesem Tag fand in der Regie Leopold Lindtbergs die Premiere von Brechts „Mutter Courage“ mit Therese Giehse in der Titelrolle statt.  

Zu diesem Zeitpunkt, also nicht einmal drei Monate nach der Eröffnung, hatten sich in Wien allerdings bereits zwei Lager gebildet: Eines, das für die „Scala“ war und eines, das gegen sie war. Was das konkret bedeutete, fasste Therese Giehse in einem Gespräch mit Monika Sperr folgendermassen zusammen: „Der gewählte Spielort war infam, da ging kein anständiger Wiener hin. Bis dahin reichte die Toleranzgrenze nicht: das ‚Theater in der Scala‘ wurde boykottiert, auch die ‚Courage‘, so grandios die Aufführung auch war. Denn wer in diesem Kommunistentheater spielte, für den galt nach altem Recht und Brauch: mitgefangen – mitgehangen.“

In einem Interview, das ich im August 1980 mit dem Kritiker Hans Weigel führte, bestätigte auch er, dass die Herabwürdigung der künstlerischen Leistungen der „Scala“ – und Bertolt Brechts – ausschließlich politisch motiviert war. Weigel: „Der Meinungsumschwung kam durch den Kalten Krieg, das ist ganz klar.“ 

Dass der Wind, der der „Scala“ seit ihrer Gründung entgegenblies, ebenfalls entsprechend kalt war, versteht sich angesichts der politischen Lage im damaligen Österreich von selbst. Die Positionen waren unversöhnlich, die Fronten verhärtet und es gab kein „Gespräch der Feinde“, wie der Publizist Friedrich Heer eines seiner Bücher programmatisch nannte. Nebenbei: Als Friedrich Heer 1962 – er war damals Chefdramaturg des Burgtheaters – Hans Weigel als „kleinen österreichischen McCarthy“ bezeichnete, wurde er wegen Ehrenbeleidigung zu einer Geldstrafe von öS 2.000,– verurteilt. Vier Jahre zuvor hatte Weigel weniger Glück. Da verlor er nämlich einen Prozess, den die vier ehemaligen „Scala“-Mitglieder Karl Paryla, Wolfgang Heinz, Erika Pelikowsky und Hortense Raky gegen ihn angestrengt hatten, weil er sie „als Künstler getarnte Agenten, die während ihrer Gastspiele im Westen für den ostdeutschen Geheimdienst spionierten“, bezeichnet hatte. 

Und weil wir schon dabei sind: In einem anderen der endlos vielen Prozesse, die Hans Weigel im Laufe seiner Tätigkeit als Theaterkritiker führte – am bekanntesten ist wohl der  Prozess um die „Watsche“, die die Burgschauspielerin Käthe Dorsch dem Kritiker Weigel auf offener Straße gab –, kam auch ein Vorfall zur Sprache, der im November 1958 für einiges Aufsehen sorgte. Damals hatte Weigel den einstigen „Scala“-Schauspieler Friedrich Lobe in mehreren Artikeln derart heftig attackiert, dass dieser einen Herzinfarkt erlitt und starb.

Auch wenn es sich dabei aus der Sicht Weigels um einen bedauerlichen „Betriebsunfall“ handelte, zielte die Diffamierung ehemaliger „Scala“-Schauspieler durch Kritiker wie Hans Weigel, Friedrich Torberg oder Jacques Hannak ausdrücklich darauf ab, die berufliche Existenz ihrer Feinde – nicht Gegner! – zu vernichten. Daraus machten diese Herrschaften auch nie ein Hehl.

Als zum Beispiel Karl Paryla 1962 aus der DDR nach Wien zurückkehrte und an das Theater in der Josefstadt engagiert wurde, schrieb Torberg: „Und es genügt nicht, dass Karl Paryla hierzulande ungestört leben, kommunistisch wählen und sich kommunistisch betätigen darf – nein, man muss ihn auch noch engagieren.“ Und als Otto Tausig nach seiner Rückkehr aus der DDR mit dem Direktor des Theaters in der Josefstadt, Franz Stoß, wegen eines Engagements verhandelte, hielt Stoß in der einen Hand den Vertrag und in der anderen eine „Reueerklärung“, die sich auf Tausigs Zeit an der „Scala“ bezog. Stoß zu Tausig: „Die ist nicht für mich, sondern für Leute wie Weigel und Torberg.“

Dass Weigel und Torberg später versuchten, ihre Rolle in der Zeit des Kalten Krieges herunterzuspielen, versteht sich angesichts gewisser österreichischer Gesetzmäßigkeiten von selbst. Noch 1983 meinte Hans Weigel während einer Diskussionsveranstaltung in Wien, dass damals ja alles gar nicht so schlimm gewesen sei und man den Brecht- und „Scala“-Boykott vor dem Hintergrund des Kalten Krieges sehen müsse. Darauf konterte Otto Tausig: „Ich kann diese Zeit nicht so lustig empfinden, war ich doch zweimal im Exil, einmal unter Hitler und einmal unter Weigel und Torberg.“ Tausig spielte hier darauf an, dass nach der erzwungenen Schließung der „Scala“ im Juni 1956 ein Teil des Ensembles mangels Arbeitsmöglichkeiten in Österreich in die DDR ging und dort am Deutschen Theater in Berlin eine neue künstlerische Heimat fand.

Hätte es sich bei der „Scala“ tatsächlich um ein reines KP-Propagandatheater gehandelt, wie in einem Großteil der Medien trommelfeuerartig immer wieder behauptet wurde, hätte dieser Bühne mit Sicherheit kaum jemand eine Träne nachgeweint. Aber die „Scala“ schaffte in den acht Jahren ihres Bestehens etwas, das in der darstellenden Kunst selten gelingt: Höchstes künstlerisches Niveau mit einem dezidiert gesellschaftlichen Anspruch zu verbinden, und dabei das Publikum auf lustvolle Weise zu unterhalten und zum Denken anzuregen. Vor diesem Hintergrund versteht man auch, weshalb an der „Scala“ Persönlichkeiten wie Bertolt Brecht, Helene Weigel, Hanns Eisler, Ernst Busch, Leopold Lindtberg, Therese Giehse, Dorothea Neff, das Brüderpaar John Heartfield/Wieland Herzfelde, Teo Otto, Arnolt Bronnen, Marcel Rubin und viele andere tätig waren und weshalb aus dem Ensemble Schauspielerinnen und Schauspieler hervorgingen, die das deutschsprachige Theater viele Jahrzehnte lang prägten.  

Nachdem sich ein Teil der Wiener Theaterkritik und die SPÖ-Führung in die „Scala“ regelrecht verbissen hatten, war für diese Leute mit der Unterzeichnung des Staatsvertrags im Mai 1955 die Zeit der Abrechnung gekommen. Die Lage auf den Punkt brachte der vom ehemaligen Wiener Kulturstadtrat Viktor Matejka als „Berufsantibolschewik“ bezeichnete Kritiker Jacques Hannak, der am 24. Februar 1956 in der „Arbeiter Zeitung“ schrieb: „Da haben also die Kommunisten im Jahre 1948 in der ‚Scala‘ ein Theater aufgemacht, dessen Aufgabe es war, auf dem Umweg über ‚Kultura‘ Österreichfl reif zur Volksdemokratie zu machen. Es war eine der vielen antiösterreichischen Waffen, mit denen unser Land in die Knechtschaft gezwungen werden sollte. Ein kommunistisches Parteitheater ist nichts anderes als ein Propagandainstrument mit Kulturtarnung. Die ‚Scala‘ wurde in Wien als solches behandelt: als ein Stück Missbrauch, als eine Waffe in Feindeshand. In der ‚Scala‘ bleiben die Kommunokapitalisten nicht. Gewerkschaftsgut bleibt nicht länger auf Grund ‚sibirischer Verträge‘ in kommunistischen Händen.“ Hier spielte Hannak darauf an, dass der ÖGB das „Scala“-Gebäude für sich in Anspruch nahm.

Als die Schließung der „Scala“ immer wahrscheinlicher wurde, appellierten Künstler aus aller Welt an den SPÖ-Kulturstadtrat Hans Mandl, sich für eine Weiterführung des Theaters, „das zu den besten Europas gehört“ (Bertolt Brecht), einzusetzen. Neben Brecht schrieben an Mandl auch der Intendant des „Piccolo Teatro“ in Mailand, Paolo Grassi, es kamen Briefe von Lion Feuchtwanger aus Kalifornien, von Howard Fast aus New York, von Erwin Piscator aus West-Berlin, von Erich Engel aus Ost-Berlin, von Therese Giehse aus Zürich und vom Präsidenten der Internationalen Schauspielergewerkschaft, Jean Darcant. Diese Briefe nutzten ebensowenig wie die Protestschreiben der Volksbühne Berlin, des Berliner Ensembles, des Maxim-Gorki-Theaters oder des Teatr Narodowy aus Warschau. 

Auch 22.000 gegen die Schließung gesammelte Unterschriften halfen nichts, da sich SPÖ und ÖGB die Gelegenheit nicht entgehen lassen wollten, der „Scala“ durch einen formalen Trick endgültig den Garaus zu machen. An Brecht schrieb Stadtrat Mandl in typisch österreichischer Beamtenmanier: „Da Herr Direktor Heinz den gesetzlich vorgeschriebenen Nachweis der Betriebsstätte nicht erfüllen kann, ist die Behörde nicht in der Lage, eine Konzession für diese Betriebsstätte zu geben. Es geht also bei dem anhängigen Konzessionsverfahren nicht um die künstlerischen Qualitäten der Theaterleitung und des Ensemblfies, die unbestritten sind, sondern darum, ob der Konzessionswerber die notwendigen gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt oder nicht.“ 

Nach der letzten Vorstellung am 30. Juni 1956, gezeigt wurde Brechts „Leben des Galilei“ mit Karl Paryla in der Titelrolle, fiel der letzte Vorhang in der „Scala“. Danach stand das Gebäude bis 1959 leer und wurde schließlich abgerissen. Die Baulücke wurde zwar Mitte der siebziger Jahre wieder geschlossen, aber die Lücke, die die „Scala“ in der österreichischen Theaterlandschaft hinterlassen hat, klafft bis heute.

Das Schlusswort gehört einem unverdächtigen Zeugen, nämlich Helmut Zilk, der 1984 anlässlich der Verleihung des Professorentitels an Karl Paryla erklärte: „Ich stehe nicht an zu sagen, dass ich es als eine Schande für die Stadt empfunden habe, unter welchen schmählichen Umständen man aus vordergründigen politischen Gründen das ,Neue Theater in der Scala‘ eingehen ließ.“ 

Beitrag für Die Presse“ („Spectrum“), erschienen am 24. Juni 2006

Rauchzeichen

Rauchzeichen

Von Kurt Palm

Wann ich zum ersten Mal Zigarettenrauch eingeatmet habe, weiß ich nicht mehr. Allerdings bin ich mir sicher, dass es sehr früh gewesen sein muss. Sehr früh heißt: In meinen ersten Lebensmonaten. Ich vermute das deshalb, weil in meiner Umgebung viel geraucht wurde. Und daran änderte auch die Anwesenheit eines Babys nichts. Später ist mir dann aufgefallen, dass eigentlich nur die Männer geraucht haben. Rauchende Frauen gehörten in meiner Kindheit zu einer verschwindend kleinen Minderheit, die mit dem Akt des Rauchens einen Tabubruch begingen. Wie das Trinken, das Karten spielen oder das Auto fahren, war das Rauchen Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre eine fast ausschließlich männliche Domäne. Frauen wurden bestenfalls zu Passivraucherinnen degradiert.

Familiäre Zusammenkünfte an den Wochenenden waren ohne zigarettenrauchende Männer undenkbar. Dass in den Wohnungen geraucht wurde, war selbstverständlich. Kein Mensch wäre damals auf die Idee gekommen, zum Rauchen nach draußen zu gehen. Heute ist es genau umgekehrt. Als ich kürzlich bei Bekannten eingeladen war, dachte sich niemand etwas dabei, als der Gastgeber nach dem Essen zu seiner Zigarettenpackung griff und mit den Worten – „I rauch g‘schwind ane“ – auf den Balkon verschwand. Die Stigmatisierung der Raucher als asoziale Wesen wird also in vorauseilendem Gehorsam bereits in den eigenen vier Wänden praktiziert. Wobei in diesem Zusammenhang eine interessante Beobachtung zu machen ist: Während im privaten Bereich die Raucher ihrer Leidenschaft, ihrer Sucht oder ihrem Laster  – je nach Betrachtungsweise – oft versteckt nachgehen, findet im öffentlichen Raum quasi eine Umkehrung statt. Auf Flughäfen oder Bahnhöfen, um nur zwei besonders krasse Beispiele zu nennen, werden Raucherinnen und Raucher für alle sichtbar in Glaskojen zur Schau gestellt, wobei diese Art der Zurschaustellung sicher ganz bewusst an Zoos erinnern soll.

Der Raucher wird auf diese Weise zu einer Art Outlaw erklärt und steht damit im Gegensatz zu jenem Abenteurer, ohne den die Zigarettenwerbung der 70er- und 80er-Jahre nicht vorstellbar wäre. Während der berühmte Marlboro-Cowboy mit jedem Zigarettenzug der grenzenlosen Freiheit ein Stück näher kam, verliert der Raucher heute mit jedem Zug ein Stück seiner Freiheit. 

Aber selbstverständlich hatte die Werbung auch für diejenigen, die nicht gerne alleine auf Abenteuertrip gehen wollten, den richtigen Spruch parat. So lautete der Slogan für die Johnny-Zigaretten: „Mit Johnny hast du immer einen Freund, mit Johnny bist du nie allein.“ 

In meiner Erinnerung ist das Rauchen untrennbar mit einem Medium verbunden, das nicht wenig zur Popularität der Zigarette beigetragen hat: Das Fernsehen.

Da meine Großeltern in unserer Verwandtschaft die einzigen waren, die ein Fernsehgerät besaßen, entwickelte sich deren Küche vor allem an den Wochenenden zum Zentrum für familiäre Zusammenkünfte. Wenn samstags spät in der Nacht ein Western gezeigt wurde, trafen sich bereits am Abend mein Großvater, mein Vater und zwei Onkel, um sich mit einem Viererschnapser auf den Film einzustimmen. Dass dabei geraucht wurde, versteht sich von selbst. Ob das Passivrauchen den anwesenden Kindern schaden könnte, interessierte zu dieser Zeit  – zumindest in Timelkam – keinen Menschen. Aber dafür, dass wir um 22 Uhr einen Western sehen durften, nahmen wir sogar das Passivrauchen in Kauf. 

Ähnliches galt übrigens für den weiblichen Teil der Verwandtschaft, wenn Hans-Joachim Kulenkampffs Quizsendung „Einer wird gewinnen“ auf dem Programm stand. An solchen  Abenden versammelten sich dann bis zu fünfzehn Personen in der kleinen Küche meiner Großeltern, und die Stimmung war entsprechend ausgelassen. Die Männer spielten Karten und rauchten, die Frauen sprachen über das Kochen, und die Kinder schrien, stießen Weingläser um oder zerbröselten Soletti-Stangerl auf dem Teppich. Dabei konnte es dann schon einmal vorkommen, dass meine Großmutter mit den Worten „Macht‘s nicht so einen Lärm! Was wird sich denn der Kulenkampff von uns denken!“ wieder für Ruhe sorgte.

Soweit ich mich erinnere, wurde in meiner Kindheit und Jugend eigentlich überall geraucht, ausgenommen vielleicht die Kirche, wobei es in Timelkam einen Mesner gab, der immerhin in der Sakristei rauchte. Selbst im alten Krankenhaus von Vöcklabruck gab es in jedem Stockwerk eine Raucherecke, wobei diese Ecke auf der Lungenstation besonders skurril anmutete. Heute ist das genauso unvorstellbar wie die Tatsache, dass man bis vor gar nicht so langer Zeit noch in Flugzeugen rauchen konnte. Ich erinnere mich an einen Tarom-Flug von Wien nach New York – Tarom war die staatliche rumänische Fluglinie – , während dem ich acht Stunden lang zwischen zwei kettenrauchenden Polen saß. Diesen Flug werde ich aber auch aus einem anderen Grund nicht vergessen: Bei der Ankunft in New York waren die Stewardessen und die Piloten derart betrunken, dass die Maschine zwei Stunden lang auf dem Rollfeld warten musste. Erst nachdem man einen Ersatzpiloten aufgetrieben hatte, konnte die Maschine die letzten paar hundert Meter bis zum Gate zurücklegen. Die links und rechts von mir sitzenden Polen vertrieben sich die Wartezeit natürlich damit, dass sie eine Zigarette nach der anderen pafften. 

Dadurch, dass ich als Kind nur Männer sah, die rauchten, war für mich klar, dass ich als Erwachsener ebenfalls rauchen würde. Die Frage war nur: Ab wann war man alt genug, um rauchen zu dürfen? In diesem Zusammenhang befand sich die Gesellschaft in einem argen Dilemma: Auf der einen Seite wurde in Zeitungen, auf Plakatwänden, im Kino, im Fernsehen und im Radio hemmungslos für Zigaretten geworben, auf der anderen Seite versuchten Eltern ihre heranwachsenden Kinder davon zu überzeugen, dass das Rauchen eigentlich doch kein erstrebenswertes Ziel wäre. Als Hauptargument wurde dabei weniger der gesundheitliche, als vielmehr der finanzielle Aspekt ins Treffen geführt. Ich erinnere mich an Abende, an denen wir Kinder von unseren Eltern angehalten wurden, uns auszurechnen, wieviel wir uns ersparen würden, wenn wir bis zu unserem 80. Lebensjahr nicht rauchen würden. Am Ende kam immer eine derart gigantische Summe heraus, dass wir nicht verstehen konnten, weshalb mein Vater, meine Großväter, meine Onkel und auch sonst die meisten männlichen Erwachsenen in unserem Umfeld, ständig eine Zigarette im Mund hatten. Hätten sie ihr Geld nicht für Zigaretten ausgegeben, sondern auf ein Sparbuch gelegt, hätte eigentlich jeder von ihnen längst Millionär sein müssen.

Einschränken muss ich an dieser Stelle allerdings, dass mein Vater nur selbstgedrehte Zigaretten rauchte, die erheblich billiger waren als Markenzigaretten. Zum Leidwesen meines Vaters versuchten wir Kinder irgendwann ebenfalls, Zigaretten zu drehen. Heraus kamen dabei meist unförmigen Gebilde, die mein Vater dann in mühevoller Kleinarbeit wieder zerbröseln musste, um wenigstens den Tabak zu retten.

Irgendwann um meinem zwölften Geburtstag herum wurde der Drang, endlich selbst einmal eine Zigarette zu rauchen, so stark, dass ich mit einigen Freunden beschloss, den ersten Zug zu wagen. Durch diesen Initiationsritus wollten wir in die Welt der Erwachsenen aufgenommen werden, was diese aber natürlich nicht wissen durften. Da es in Timelkam nur eine Tabak-Trafik gab und das Ehepaar Angelmaier alle Kinder im Ort kannte, blieb uns gar nichts anderes übrig, als uns unsere Tschick selbst zu basteln. Also schnappten wir uns unsere Fahrräder und fuhren in die Au, wo wir uns am Ufer eines kleinen Baches niederließen, um aus Lianen Zigaretten ;herzustellen. Welches Papier wir verwendeten, weiß ich nicht mehr, aber ich weiß noch, dass der von uns allen seit Langem herbeigesehnte Tag der ersten Zigarette gehörig in die Hosen ging. Und das im wahrsten Sinn des Wortes. So, wie wir es in diversen Abenteuerfilmen gesehen hatten, zerkleinerten wir mit unseren Taschenmessern trockene Lianenfasern und versuchten diese in die mitgebrachten Papiere einzudrehen. Irgendwann hatten wir ein paar Objekte zwischen unseren Fingern, die zumindest entfernt an Zigaretten erinnerten. Das Zeug, das wir rauchten, schmeckte allerdings nicht nur grauenhaft, sondern stank auch fürchterlich. Aber da wir als Abenteurer nicht schlapp machen durften, rauchten wir die Lianenzigaretten tapfer zu Ende. Zu Hause angekommen, führte uns der erste Weg dann schnurstracks auf die Toilette, wo wir zum ersten Mal am eigenen Leib spürten, was das Wort Verdauungszigarette auch bedeuten kann. Aber da auch in diesem Fall galt, dass Rückschläge dazu da sind, um überwunden zu werden, war klar, dass wir irgendwann unsere erste richtige Zigarette rauchen würden. Gemäß dem Grundsatz: Man muss die erste überstehen, wenn man ein richtiger Raucher werden will. 

Nach dem Erreichen des achtzehnten Lebensjahrs verlor das Rauchen für mich interessanterweise ein wenig an Reiz. Bedeutete das Rauchen bis dahin die Übertretung einer Norm, ging es jetzt eher darum, zu zeigen, dass das Rauchen ein sinnliches Vergnügen war. Zu diesem Zweck musste man nicht nur die richtige Marke rauchen, sondern durch die entsprechende Rauchtechnik auch zeigen, dass man kein blutiger Anfänger war. 

Die intensivste Rauchphase meines Lebens war ident mit meiner Studentenzeit in Salzburg. Soweit ich mich erinnere, wurde damals praktisch immer und überall geraucht, wobei in der Zwischenzeit insofern eine kleine Revolution stattgefunden hatte, als es jetzt selbstverständlich war, dass auch die Frauen rauchten. 

Da ich in meiner Studentenzeit sehr viel gereist bin, war es nicht unwichtig, welche Zigaretten man in den jeweiligen Ländern rauchte. In Frankreich rauchte man zum Beispiel nur gelbe Gitanes oder Gaulloises, in Italien MS, in der DDR Karo, in der Sowjetunion Papirossi, in der BRD Camel und in Jugoslawien F 57. Die F 57 waren übrigens der Grund, weshalb ich Anfang der achtziger Jahre mit dem Rauchen wieder aufgehört habe. Und das kam so: Am Ende eines dreiwöchigen Istrien-Urlaubs beschlossen meine damalige Freundin und ich, die Gunst der Stunde zu nutzen, und zehn Stangen F 57 nach Österreich zu schmuggeln. Verglichen mit österreichischen Zigaretten, ersparten wir uns auf diese Weise die Einrichtung eines kleinen Vorzimmers. Da wir neben den zehn Stangen F 57 auch noch dreißig Liter Rotwein im Auto versteckt hatten, war klar, dass eine Zollkontrolle unseren finanziellen Ruin bedeutet hätte. Zu unserem großen Glück winkten uns die Zöllner aber durch, was wiederum zur Folge hatte, dass in den folgenden Wochen unsere Haupttätigkeit im Zigarettenrauchen und Rotweintrinken bestand. Da die F 57 filterlose Zigaretten waren und rasch austrockneten – es handelte sich dabei also um richtige Beuschelreißer –, und de›r Wein in Fünf-Liter-Gallonen abgefüllt war, mussten wir praktisch permanent rauchen und trinken. Irgendwann ist mir von den F 57 und dem qualitativ nicht gerade hochwertigen Rotwein aber so schlecht geworden, dass ich eine richtiggehende Aversion gegen das Rauchen entwickelte. Die Aversion gegen das Rauchen (von Zigaretten, nicht von Joints) ist geblieben, die Aversion gegen das Weintrinken zum Glück nicht. 

Trotz der Tatsache also, dass ich seit mittlerweile dreißig Jahren Nichtraucher bin, lehne ich die globalen Anti-Raucher-Kampagnen und die weltweit grassierenden Rauchverbote ab. Auch die Warnhinweise auf den Zigarettenpackungen, denen eine gewisse Penetranz nicht abzusprechen ist, finde ich eher komisch als hilfreich.…

* Rauchen kann zu einem langsamen und schmerzhaften Tod führen.

* Rauchen kann zu Durchblutungsstörungen führen und verursacht Impotenz.

* Rauchen kann die Spermatozonen schädigen und schränkt die Fruchtbarkeit ein.

* Rauch enthält Benzol, Nitrosamine, Formaldehyd und Blausäure.

Nicht genug damit, hat die Weltgesundheitsorganisation WHO im Jahr 1987 den Weltnichtrauchertag ins Leben gerufen, der jährlich am 31. Mai „gefeiert“ wird. Um diesem Tag etwas mehr Pepp zu geben, steht er jedes Jahr unter einem anderen Motto.

* Sportler und Künstler rauchen nicht!

* Rauchfreie Luft für freie Bürger!

* Film und Fernsehen: Mit Schall ohne Rauch!

* Rauchfreie Jugend.

* Ein Bild sagt mehr als tausend Worte.

Dem Braintrust, der sich solche Slogans ausdenkt, würde ich übrigens gerne einmal bei der Arbeit zusehen.

Auch wenn die weltweiten Anti-Raucher-Kampagnen aus medizinischer Sicht sinnvoll sein mögen, verwundert es doch ein wenig, dass auf keiner Bier-, Wein- oder Schnapsflasche ähnliche Warnungen zu lesen sind. Außerdem stellt sich die Frage, ob nicht auf dem Großteil der Lebensmittelverpackungen stehen müsste, dass der Verzehr von deren Inhalten gesundheitsschädigend ist. Vom MacDonald‘s-Drecksfraß einmal ganz abgesehen.q Und wie verhält es sich eigentlich mit den Autos? Pro Jahr kommen weltweit ca. 1,2 Millionen Menschen bei Verkehrsunfällen ums Leben, aber ich habe noch kein Auto gesehen, auf dem vor der tödlichen Gefahr des Autofahrens gewarnt werden würde.

Denkt man die Warnhinweise auf den Zigarettenpackungen konsequent weiter, müsste eigentlich auch auf jedem Kleidungsetikett von H & M oder C & A der Hinweis stehen, dass der Kauf dieses Kleidungsstücks für Kinder in Bangladesch, China oder Indien tödlich sein könnte. 

Mag ja sein, dass hinter den global geführten Anti-Raucher-Kampagnen tatsächlich die Sorge um die Gesundheit der Menschen steht, allerdings glaube ich, dass es dabei auch noch um etwas anderes geht, nämlich um soziale Kontrolle. Irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass die generalstabsmäßig durchexerzierten Anti-Raucher-Kampagnen für die Herrschenden eine Art ETestlauf sind, um herauszufinden, wie weit sie die Massen steuern können, ohne dass diese Widerstand leisten. Was als Nächstes kommen wird, wissen wir nicht, aber wenn wir uns einmal vor Augen halten, dass unser Leben fast nur noch von Ver- und Geboten bestimmt wird, ist dieser Verdacht sicher nicht von der Hand zu weisen. 

Aber wahrscheinlich muss man solche Entwicklungen in unserer Zeit des Gesundheits-, Körper- und Schönheitskults in Kauf nehmen, in der Light-Getränke und Diätmargarinen ein höheres Ansehen genießen als Zigaretten. 

Auch wenn am 31. Mai der Weltnichtrauchertag gefeiert wird, gehört das Schlusswort  einer Raucherin, und zwar der uruguayanischen Schriftstellern Cristina Peri Rossi: „Kann sein, dass die Zigarette auf lange Sicht tötet. Aber auf kurze Sicht ist sie ein Reiz, der seinesgleichen sucht. Auch das Leben tötet – immer –, und doch lieben wir es – hin und wieder.“

Der Standard, Album, 25. Mai 2013